Skip to main content

Full text of "Schwarze Faden - Zeitschrift Nummer 0-77"

See other formats


1/96 (Nr.57) 17.Jg. 8.-DM E9860F 



Vierteljahresschrift für Lust und Freiheit 

















I;-® 








Impressum: 

Redaktions- & ABOädresse: 

üi'hwamr FaHen. PF 11W 


Schwarzer Faden, 
D-71117 Grafenau 



■ 


Tel. 07033-44273, Fax 07033-45264 


Einzelpreis: 8.-DM 
ABO (5 Nrn.): 35.-DM 
Postgiro Stuttgart: Kto. W. Haug, 
- w . 57463-703, BLZ 600 100 70 


U'.y 


Erscheinungsweise: 5 x jährlich 
. Anfiaae: 2500 



irafenäu 




Mtl. Dauerspenden für die 
Verbreitung anarchisth 

GeHnntpnoiik' 


Namentlich gekennzeichnete Beiträge stehen 
unter der Verantwortlichkeit der Verfasser¬ 
innen und geben nicht die Meinung des 
Herausgebers oder des presserechtlich Ver¬ 
antwortlichen wieder. 

Verlag, Satz & Vertrieb: Trotzdem-V erlag, 
Grafenau 

Druck & Weiterverarbeitung: Druck- 
cooperative, Karlsruhe 


Verbreitung anarchistischen 

••st® 

, Frankfurt 
.Paderborn 

1 jvI-, Dortmund 10.-; V.S., 
Groß-Umstadt 20.-; U.S., Thedinghau¬ 
sen 15 .-; 

Gesamtstand (Februar: 110.-) 

r T■■ ■ sg’ : '._övs ’v■■' r .V.GT .g ; g :gG-/("G v-.-P Pp2p'V : \ : GTP(yV;TpPP ; v p-GpV;pGT.TPP PP ■' PPV '. P (ip.yF'P z 




Das Redaktionskollektiv entscheidet über 
Inhalt und Form der Zeitschrift. Ein An¬ 
spruch auf Veröffentlichung besteht nicht. 
Der Abdruck erfolgt honorarfrei. 
crnti-Copyright: Nachdruck von Texten ist 
unter Angabe der Quelle und Zusendung 
eines Belegexemplars ausdrücklich er¬ 
wünscht. 

Redaktion: Wolfgang Haug, MoritzMilch, 
Peter Reichelt, Andreas Ries, Harald Ro¬ 
macker, Herby Sachs (V.i.S.d.P.), Boris 
Scharlowski, Dieter Schmidt 



Mitarbeit:; Der SF versucht eine Mischung 

pYFppV;- • -vi «• ♦ , t-i • • ■•••»•• •-••• ••• 


Lktuetlen politischen Ereignissen, Inter- 
lllplui Aktualisierung libertärer 
irie, Aufarbeitung freiheitlicher Ge- 
lit^^jeiner Kultur-und Medienkritik 
Junten; Eingesandte Artikel, Photos, Gra- 
hiken etc. sind erwünscht! 

|2-Zoil-Disketteii, 

|itungsprogramm Word; ad ? fWprä< 
iws auf MAC- oder DOS-Basis. 

Dotation, Berlin; 

ich: Buchhandl. Stonehenge, Wien; 
&hares t Bern ‘ 




npreise (zzgl. 15% .ÄlWST); 

«$s: ■ ' iSÄllilS 

alte (5,4x 13,5cm): 150.- DM 




(8,5x13 cm): .. 
Seite: 



GppPppp; 

q 


J orta Westfalica, 6.-; B.W., 
Ol U.F./Hültl, 10.-; G.K., 

).-; W.F., Vlotho 10.-; Infocafc 

los, Tübingen 20.-; M. S-, 
10.-; B.W., Baunatal 5.-;, O.K., 


•' •••■.JPPI: 












Inhalt Nr. 57 


»Haste mal ne Mark?« Aktuelle Themen 

Infolade. n Leipzig/SF-Redaktion: »Das Typische am 
II. Teil der »deutschen Chronik«. 

Die taz druckt weiße Seiten, die 

Junge Welt ist beinahe pleite, Michael Wilk: Macht und Herrschaft Teil II. 

die izdvv startet eine letzte ABO- 
kantpagne. der ak sammelt wie- •*"» 

der50.000.-DM Spendengelder, der Fntzlarer Strato m Frankfurt.. 

die ila kann ohne neue ABOs Autonome!Berlin: Das Comeback der Atomindustrie 

nicht überleben, die Beute erhöht 
von 12.- DM auf 16.-DM - und 
Wii: erhöhen "nur" von 7.-DM 
auf 8.-DM! Pas ABO kostet ab 
dem 1.4.96: 35.-DM. Wer sein/ MITTELAMERIKA 
ihr ABO jetzt verlängern will, Interview mit Mitgli 
kann dies für 30.-DM tun! Komitees (C 

Die SF-Redaktion . 


AFRIKA 

Ilija Trojanow: Wurzeln und Visionen. 

Begegnungen mit den Ältesten Simbabwes 


in den Vereinigten 


Staaten der 80er und 90er Jahre. 


Kultur: 

Interview mit Dimitri Roussopoulos: »Prinzip 1: Du mußt die 
Selbstausbeutung akzeptieren« - 25 Jahre Black Rose 
Verlag, Montreal von Wolfgang Uaug und Andi Ries . 




Rezensionen 


Peter Nowak: Group 43 - Jüdischer Widerstand .. 
Peter Nowak: Christiania - Alternativer Stadtteil 
Herby Sachs: Kurdistan - Fotoband von R. Maro 
Ilerby Sachs: 4 Hände von Paco Taibo II.. . 


Geschichte 

Dieter Nelles: Die anarchistische Jugend in Wuppertal 1929-1945..S. 61 


Ilse Schwipper: »Freiheit pur«. Eine Kritik an Horst Stowasscrs 

Einschätzung der "Bewegung 2. Juni" . 

Bücher, SF-Zeilschriftenpakete... W- .. 

Rücktitel: Der Verfassungsschutz wünscht (kjeine Adressenänderung. 


trflÜl 

s,:ms. 


Redaktions- und Anzeigenschluß: SF-58 (2/96): 15.3.96 


''■'.f-'lfyy. 


Foto: Christian Carez 


















I 


Das Typische 
am Fall von 

Lübeck 

* 

II. Teil der 
“deutschen” 
Chronik 

(LTeilin SF 5/95) 

Die folgende Chronik wurde wieder 
vom Infoladen Leipzig erstellt. Wir 
führen die Chronikauszugsweise* fort, 
sie ist dazu gedacht, in unseren all¬ 
täglichen Auseinandersetzungen als 
Diskussions- und Argumentationshilfe 
genutzt zu werden, sie spiegelt die " bun¬ 
desdeutsche Realität " wider und zeigt 
die enge Denkweise weiter Teile dieser 
Gesellschaft auf Immer wieder stehen 
Politikeraussagen und Polizeiverhalten 
in einem rassistischen Kontext. Immer 
wieder geht ein Aufatmen durch die 
Republik, wenn ein Vorfall sich nicht 
als Anschlag sondern als Unfall ent¬ 
puppt oder - noch besser - sich einem 
Ausländer in die Schuhe schieben läßt. 
Im VerdrängensinddieDeutschen Welt¬ 
meister. 


Die Toten von Lübeck 

Seit Mitte Januar beschäftigt uns die 
neuste und traurigste Variante dieses 
Schauspiels. Zum Zeitpunkt des Redak¬ 
tionsschlusses dieser SF-Ausgabe wur¬ 
de eine "Nachrichtensperre zum Lü¬ 
becker Brand” verhängt. 

Weil die Recherchen von Journalist¬ 
innen der offiziellen Polizei version, daß 
ein Libanese den Brand gelegt habe, 
völlig widersprachen, dürfen die Me¬ 
dien dieses Mal nicht mehr berichten, 
sprich, wenn es nicht geschrieben und 
gesendet werden darf, dann lohnt sich 
auch die Mühe nicht mehr, vor Ort zu 
gehen und Betroffene zu befragen. 

Warum ausgerechnet ein mitbetrof¬ 
fener Libanese als Tatverdächti ger prä¬ 
sentiertwird, wird aus der vorliegenden 


Chronik nachvollziehbar. Immer häu¬ 
figer wirddie "Schuld" beidenFlücht- 
lingen und Immigrantinnen selbst ge¬ 
sucht, die Verantwortung der Behörden 
heruntergespielt oder vertuscht. 

Im Lübecker Fall ist die Täterkon¬ 
struktion sogar äußerst dürftig, im 
Haftbefehlt steht, der Libanese Safwan 
soll aus "enttäuschterLiebe" denBrand 
im eigenen Haus gelegt haben oder 
aber "ausRache” aufgrund eines Streits 
zwischen Libanesen und Afrikanern. 

Was wir erfahren haben und jetzt 
nicht weiter erfahren sollen: Der ver¬ 
meintliche Täter bestreitet nicht nur die 
Tat, er wohnte auch in dem Heim, die 
Schlafplätze seiner ganzen Familie 
befanden sich direkt am Ausbruchsort 
des Brandes und er selbst beteiligte 
sich nach Zeugenaussagen von Be¬ 
troffenen in der höheren Etage an der 
Rettung von Kindern. Das dies gelang 
kommentierten Mitbewohnerinnen mit 
"Er hat es getan”. Wie sie den Fernseh¬ 
vertretern versicherten, meinten sie 
damit, er habe die Kinder herausgeholt. 
Die Feuenvehrzeugen gaben dies als 
"Täterbezichtigung" zu Protokoll. Im¬ 
merhin läßt sich daraus die Frage 
ableiten, ob die gesamte Täterkonstruk- 
tion auf einem Interpretationsfehler 
vorschnell urteilender (weil überheb¬ 
licher und oft nicht wirklich zuhören¬ 
der?) Deutscher beruht? 

Die enttäuschte Liebe" geisterte erst 
unmittelbar vor der Nachrichtensperre 
durch die Medien, eine Aufklärung 
darüber dürfte ausbleiben. Sie wird so¬ 
mit als Tatmotiv in den Köpfen hängen 
bleiben. Aber der angebliche Streit 
zwischen Libanesen und Afrikanern 
wurde von der Afrikanischen Gemein¬ 
schaft der Hansestadt ins Reich der 
Märchen verwiesen: »Die Atmosphäre 
war kollegial und freundlich«. Die 
Afrikaner glauben nicht, daß Safwan 
der Täter ist, sie sehen ihn weiterhin als 
"Nachbarn". 

ff 


Chronik II 

(1. November 1995 - 
21.Dezember 1995) 

Ab dem 1.11.95 bis zum Februar 1996 
sollen die personenbezogenen Daten 
und Fingerabdrücke von 9.000 Asyl¬ 


bewerberinnen aus der BRD an das 
schweizerische Bundesamt für Flücht¬ 
linge übermittelt werden. Die Daten 
dienen angeblich lediglich statistischen 
Zwecken, um die Höhe der Mehrfach¬ 
antragstellungen von Flüchüingen in 
zwei verschiedenen Ländern zu ermit¬ 
teln. Die Daten stammen von Flücht¬ 
lingen, die in den Monaten August, 
September und Okober 1993 in der 
BRD einen Asylantrag gestellt haben. 
Die Übermittlung der Daten wider¬ 
spricht der gültigen Rechtslage und ist 
somit illegal. 

Im Oktober 95 beantragten 12.389 
Menschen Asyl. Das sind 2,7% mehr 
als im Sept. 95 and 21% mehr als im 
Okt. 94. Die meisten Flüchtlinge kamen 
aus Serbien & Montenegro (ca. 2.900) 
und der Türkei (2.100). Die Anerken¬ 
nungsquote liegt bei 8,5%. 

2.11.95. Ashraf B. aus dem Sudan 
begeht auf dem Frankfurter Flughafen 
einen Selbstmordversuch, indem er sich 
die Pulsader aufschneidet. Vor 2 Wo¬ 
chen beantragte Ashraf Asyl und durch¬ 
lief das Flughafenverfahren. Erst das 
Bundesamt, dann ein Gericht lehnten 
den Antrag ab. Der BGS prüft die Ein¬ 
weisung in psychiatrische Behandlung 
wegen “akuter Suizidgefahr”. ! 

Vor der Staatsschutzkammer des 
Berliner Landgerichts beginnt der erste 
Prozeß gegen einen Kurden wegen der 
Beteiligung am Hungerstreik von 
Kurdinnen im Juli/August 1995. Ihm 
wird u.a. vorgeworfen, am 11.8.1995 
die Einfahrt des “Deutsch-Kurdischen 
Kulturzentrums” in der Zossener' Sir. 
mit Steinen und Molotow-Cocktails 
gegen anriiekende Polizistlnnen ver¬ 
teidigt zu haben. j 

Die Münchner Ausländerbehörde 
versucht über Entzug der Arbeits¬ 
erlaubnis, Verweigerung der Sozial¬ 
hilfe, die Verlängerung der Aufent¬ 
haltsgenehmigung für jeweils nur 2 
Wochen und verbalen Druck eine 
kroatische-serbischeFlüchtlingsfamilie 

zur “freiwilligen” Ausreise nach Kroa¬ 
tien zu zwingen. Obwohl sich das 
UNHCR gegen eine Rückführung von 
minderjährigen Kindern, von Serbinnen 
nach Kroatien oder von irgendwelchen 
Flüchtlingen in besetzte Gebiete aus¬ 
spricht, halten die Behörden an ihrem 
harten Kurs gegen die Familie Vulctic 


[4] SF 1/96 






fest, die (mit ihrem Kind und ihrer total 
zerstörten Herkunftsstadt in serbisch 
besetzten Gebiet von Kroatien) alle 3 
Kriterien erfüllt. Die Caritas gibt an, 
daß schon mehrmals jugoslawische Fa¬ 
milien ihrer ‘‘nationalen Herkunft” ent¬ 
sprechend getrennt in verschiedene 
Gebiete abgeschoben wurden. 

3.11.95. Das Berliner Verwaltungs¬ 
gericht hat einem Kurden das Rechtauf 
politisches Asyl zugesprochen. In der 
Begründung heißt es, Kurdinnen aus 
dem südöstlichen Notstandsprovinzen 
seien allein schon aufgrund ihrer 
Volkszugehörigkeit von staatlicher 
Gruppenverfolgungbedroht, auch wenn 
sie mit der PKK und den Auseinander¬ 
setzungen nichts zu tun haben. Eine 
innere Fluchtaltemative sei den Kurd¬ 
innen weder zuzumuten noch existiere 
sie, da auch in der Westtürkei keine 
Sicherheit vor staatlicher Verfolgung 
wegen angeblicher PKK-Zusammen- 
arbeit besteht. (AZ 36 X 211.95). 

Der Bundesrat legt auf Antrag von 
Bayern einen Gesetzentwurf zur Ab- 
schiebehaftentlassung bei Asylantrag- 
stellung vor und will diesen im Bundes¬ 
tag einbringen. Der Entwurf sieht vor, 
daß nicht nur - wie bisher - Asylfolge¬ 
antragstellerinnen in Abschiebehaft 
bleiben, bis das Bundesamt über die 
Zulässigkeit des Folgeantrags ent¬ 
schieden hat, sondern alle Häftlinge 
solange im Knast bleiben, bis ihr Erst¬ 
oder Folgeantrag rechtsgültig entschie¬ 
den wurde, und danach entweder frei 
kommen (bei der Asylgewährung) bzw. 
direkt abgeschoben werden. Bislang galt 
das Prinzip, daß nur wer vollziehbar zur 
Ausreise verpflichtet ist, auch in Ab¬ 
schiebehaft genommen werden darf, 
d.h. alle Menschen in einem laufenden 
Asyl verfahren waren sofort zu entlassen 
bzw. konnten gar nicht erst inhaftiert 
werden. Mit dieser Regelung will der 
Bundesrat dem Stellen von Asylan- 
l^gen “aus asylfremden und taktischen 
Erwägungen” zuvorkommen. Das wird 
Vor allem illegal einreisende und hier 
übende Flüchtlinge betreffen, deren 
ernte Bekanntschaft mitder Staatsgewalt 
die sie verhaftetenden Polizistlnnen 
sind. 

Öie StaatsanwaltschaftFfM teilt mit, 
daß die Ermittlungen gegen die 5 BGS- 
eamten auf dem Frankfurter Flug¬ 
hafen, die für den Tod des Nigerianers 


i r 
' * i 


Kola Bankoie verantwortlich sind, ein¬ 
gestellt werden. Lediglich gegen den 
Arzt wird ein Verfahren wegen unter¬ 
lassener Hilfeleistung (anstelle von 
fahrlässiger Tötung) eingeleitet. Kola 
starb am 30.8.94, als der BGS das 4. 
Mal seine Abschiebung mit Gewalt 
durchsetzen wollte und ihn nach einer 
heftigen Auseinandersetzung in der 
Lufthansamaschine u.a. fesselte und 
knebelte. Ein später euphemistisch ge¬ 
nannter “Beißschutz” bestand aus ge¬ 
brauchten Socken und einem Rolladen¬ 
band und wurde mit aller Kraft von 


Spritze ermittelt, sondern nur weil er zu 
spät Wiederbelebungsmaßnahmen 
einleitete. Die Staatsanwaltschaft zieht 
damit ein Schlußstrich unter den Fall, 
der vom ersten Tag an geheimgehalten 
und vertuscht werden sollte. Die Poli¬ 
zeigewerkschaft sprach z.B. einen Tag 
nach dem Mord von einem “jederzeit 
rechtstaatlichem und angemessenem” 
Vorgehen, der Name des Opfers blieb 
tagelang unter Verschluß, Beweismittel 
wurden nie sichergestellt, der Obduk¬ 
tionsbericht warein Gefälligkeitspapier 
und die Landesregierung in Mainz 



\ 

i 



zwei BGS-Beamten über Mund und 
Nase gezerrt, um Kola am Schreien zu 
hindern. Der Flughafenarzt verabreichte 
eine “Beruhigungsspritze”. Obwohl 2 
von 4 Gutachten die Fesselung als die 
Haupttodesursache benennen, geht die 
Staatsanwaltschaft von “komplexen 
Todesursachen” aus, wie z.B. das 
angeblich “kranke Herz”, dem die 2 
Gutachten noch jahrelange Funktions¬ 
fähigkeit bescheinigen. Die 2 anderen 
Gutachten schieben den Tod auf die 
massive psychische und physische 
Belastung während der Abschiebung, 
der das Herz nicht gewachsen war. 
Gegen den Arzt wird nicht wegen der 


betonte von Anfang an, daß es “keine 
Anhaltspunkte für eine strafrechtliche 
Verantwortung” der BGSler gäbe. 
Ebenfallseingestelltwirddas Verfahren 
um den Tod einer polnischen Frau im 
Mai 93 auf dem Frankfurter Flughafen. 
Kurz nach dem Tod hieß es, die “ver¬ 
wirrte Frau” sei ohne Fremd verschulden 
erstickt, da sie Teile ihrer Kleidung 
gegessen hätte. Im Zuge der Kola- 
Ermittlungen wurde auch der Fall der 
Frau nochmals bearbeitet, da ihr zer¬ 
trümmertes Gebiß und Klebestreifen¬ 
reste im Mund eher auf eine Gewaltan¬ 
wendung schließen ließen. 

(jw 23.10., 25.10., 4.11.95, 
FR 4.11.95) 
SF 1/96 [5] 


C 

o 













Foto: Herby Sachs /Version 


i 

i 


,i 


7.11.95. Das Berliner Landgericht 
verurteilt Martin M. auf 2 Jahre und 6 
Monate Haft ohne Bewährung. Er soll 
als “Rädelsführer” bei der Verteidigung 
des Kurdischen Zentrums in Berlin auf¬ 
getreten sein. In dem Zentrum befanden 
sich viele Kurdinnen im Hungerstreik, 
nachdem die Polizei Ende Juli die 
Kurdinnen vom Breitscheidplatz veijagt 
hatte, wobei Gülnaz Baghistani starb. 
Nach Aussagen von Polizeizeugen soll 
Martin versucht haben, ein Plakat mit 
dem Symbol der verbotenen ERNK am 
Gebäude angebracht zu haben (fünf 
Monate Haft!) sowie durch “ent¬ 
sprechende Gestik und Handzeichnun¬ 
gen” die Verteidigung des Hauses gegen 
die brutale Räumung angeleitet haben 
(25 Monate). 


war. Damit ist die Landgrenze jetzt 
absolut dicht. Die Einreise per Flugzeug 
ist durch das Flughafenverfahren extrem 
erschwert. Ob und wie die Flüchtlinge 
überhaupt in einen unbekannten Dritt¬ 
staat abgeschoben werden können, ist 
unklar. Durch die Verweigerung eines 
Asylverfahrens unterliegen sie, sollten 
sie in der BRD eine Duldung erhalten, 
strengeren finanziellen und ausländer¬ 
rechtlichen Bestimmungen. (AZ - 9C73/ 
95) .. 

8.11.95. Nach Angaben von FDP- 
Politikerlnnen haben sich die Bonner 
Koalitionspartein darauf geeinigt, in 
außergewöhlichen Härtefällen auslän¬ 
dischen Ehepartnerinnen-schon nach 
einem anstelle von 3 Jahren ein eigen¬ 



Das Bundesverwaltungsgericht ent¬ 
scheidet, daß niemand Anrecht auf ein 
Asylverfahren in der BRD hat, der/die 
über einen sogenannten sicheren Dritt¬ 
staat einreist, selbst wenn das Land als 
solches nicht feststeht. Das betrifft alle 
Flüchtlinge, die auf dem Landweg in 
die BRD kommen, aber z.B. nicht 
wissen (wollen), ob ihr Fluchtweg über 
Polen oder die Tschechische Republik 
führte. Das BVG revidierte mit dieser 
Entscheidung den Beschluß des OVG 
Koblenz, einem Kurden ein Asylver¬ 
fahren zu gewähren, weil das genaue 
Durchreiseland nicht mehr zu ermitteln 


ständiges Aufenthaltsrecht zu erteilen 
Die 4-Jahres-Regel für den Normalfall 
soll weiterbestehen. Außerdem sollen 
Ausländerinnen mit einem 15-jährigen 
rechtmäßigen Aufenthalt in der BRD 
auch bei Verlassen dieser für längere 

Zeit eine unbefristete Aufenthaltser¬ 
laubnis nicht verlieren. 

In Hannover treten 40 Kurdinnen aus 
Protest gegen ihre geplante Abschie¬ 
bung in einen unbefristeten Hunger¬ 
streik. Ihre Asylanträge wurden vom 
Oberverwaltuhgsgericht Lüneburg 
abgelehnt, obwohl sie in der Türkei 


gefoltert und ihre Dörfer vollständig 
zerstört wurden. Der Niedersächsische 
Flüchtlingsrat widerspricht dem OVG 
bezüglich der “inneren Fluchtalter¬ 
native” Westtürkei. So wurden allein in 
Izmir und Umgebung in den letzten 
zwei Monaten 200 Kurdinnen, fest¬ 
genommen, zum Teil gefoltert und deren 
Häuser zerstört. Amnesty International 
betont, daß abgeschobenen Kurdinnen 
in der Türkei Verhaftung, Verhöre, 
Mißhandlungen und F. .ter drohen. 

11.11.95. Etwa 700 Menschen be¬ 
teiligen sich an einer Demonstration 
gegen die Abschiebepolitik der BRD, 
welche zum Abschiebeknast Glasmoor 
(bei Hamburg) führt. In Glasmoor 
können bis zu 84 Abschiebehäftlinge - 
jeweils zu sechst in einer Zelle von 27 
Quadratmetern - untergebracht werden. 
Nach einem Hungerstreik von Flücht¬ 
lingen im Knast wurden einige abge- 
schoben oder umverlegt, obwohl z.B. 
in einem Fall das Bundesamt einen 
Asylfolgeantrag eines Kurden bear¬ 
beiten wollte. 

Der Hessische Verwaltungsgerichts' 
hof in Kassel entscheidet, daß die Dritt- 
Staatenregelung nur Anwendung finden 
kann, wenn der Drittstaat, über den ein 
Flüchtling eingereist ist, auch tatsäch¬ 
lich feststeht. Dies entspreche der In¬ 
tention der 1993 im Asylkompromiß 
geschaffenen Drittstaatenregelung. 
Außerdem wäre die Anwendung der 
Drittstaatenregelung bei unbekanntem 
Reiseweg, wie ihn das Bundesverfas- 
sungsgerichtunddieOVG’s von Bayern 
und Baden-Württemberg befürworten, 

nicht möglich, da in diesen Fällen nur in 

das Herkunftland abgeschoben werden 
könne, was aber nicht zulässig sei. Der 
hessische VGH stellt sich damit hinter 
eine Entscheidung des OVG Koblenz, 
(siehe 7.11.95) 

Die SPD fordert eine “humane Alt¬ 
fallregel” Nach der Vorstellung der 
SPD sollen Flüchtlinge mit einem min¬ 
derjährigem Kind nach 5, alle anderen 

nach8JahreninderBRDbleibendürfen. 

wenn sie ihren Lebensunterhalt selbst 
bestreiten können. Die FDP-Bundes- 
tagfraktion schließt sich dieser Forde¬ 
rung an. Der CDU-Vorsitzende in 
RheinlandPfalz, JohannesGerster, wirft 
Kanther in Bezug auf die Altfallregelung 
Unmenschlichkeit vor und erklärt, sich 


[ 6 ] SF 1/96 







mit der Entscheidung von Kanther nicht 
abzufinden. Gerster plädiert für eine 
Einzelfallprüfung. 

14.11.95. Die Bremer Innenbehörde 
verbietet den “Kurdisch-Deutschen 
Verein für Völkerfreundschaft- Hevalti 
e. V.” und diePolizei durchsucht deshalb 
am Morgen die Räume des Vereins in 
Bremen und beschlagnahmt verschie¬ 
dene Materialien. Dem Verein wird die 
Unterstützung der PKK vorgeworfen. 
Am 24.10. verlor der Verein ein Ver¬ 
fahren gegen den Innensenator Ralf 
Borttscheller, der behauptet hatte, der 
Verein wäre ein Treffpunkt und Tam- 
organisation der PKK, die “dort hinter 
verschlossenen Türen Straftaten, sogar 
Kapitalverbrechen” (z.B. “ein versuch¬ 
ter Mord” gegen einen Abtrünnigen, 
Drogenhandel, Schutzgelderpressungen 
usw - Interview im Focus) plant. Das 
Gericht entschied, daß die Meinung des 
Innensenators als “freie Meinungs¬ 
äußerung” durchgehen könne, denn ein 
politischer Verein, wie Hevalti, müsse 
auch schärfere Formulierungen hin¬ 
nehmen können. Der CDU-Senator 
kündigte schon damals an, den Verein 
bald verbieten zu wollen. 

Bei einer bundesweiten Großrazzia 
in 45 Wohnungen und Asylbewerber¬ 
heimen in 3 Bundesländern nimmt die 
Polizei 100 Menschen fest, die des 
Menschenschmuggels oder der illegalen 
Einreise verdächtigt werden. Gegen 6 
Personen, “Drahtzieher eines Schleu¬ 
serings” ergeht Haftbefehl. 

Der BGS am Stuttgarter Flughafen 
verhindert auf Anweisung des Aus¬ 
länderamtes Emmendingen die Fami- 
lienzu sam men führung eines kurdischen 
Ehepaares mit ihren Kindern, die aus 
der Türkei kommen. Der Familienvater 
Mehmet B., der mit seiner Frau seit 4 
Jahren als Asylbewerber in der BRD 
lebt, will seine Kinder vom Flughafen 
abholen und beantragte dafür von der 
Ausländerbehörde eine Erlaubnis zum 
Verlassen des Landkreises. Die derart 
aufmerksam gewordene Ausländerbe¬ 
hörde ruft beim Flughafen-BGS an und 
teilt ihm mit, daß der BGS die vier 9 bis 
13 jährigen Kinder gleich wieder ab¬ 
schieben soll, weil deren Einreise nicht 
erwünscht wäre. Der BGS beruft sich 
später darauf, daß die Kinder nicht aus¬ 
drücklich um Asyl gebeten hatten. Der 


Rechtsanwalt will jetzt die zuständigen 
Behörden auf Schadensersatz verkla¬ 
gen. 

15.11.95. Die UNHCR-Vertreterin in 
der BRD, Judith Kumin, kritisiert bei 
der Vorstellung des Flüchtlingsberichts 
des UNHCR in Bonn die BRD, die ihre 
Beiträge an das UNHCR in den letzten 
Jahren trotz steigender Flüchtlings¬ 
zahlen (50 Millionen) reduziert hat 
(1994: 17 Mio US$, 1995: 15,8 Mio 
US$ - pro Flüchtling 32 Pfennige). 
Außerdem bemängelt sie die Drittstaa¬ 
tenregelung, Rücknahme Verträge, Ket¬ 
tenabschiebungen, die unzureichende 
Menschenrechtspolitik und die juri¬ 
stische Herausnahme von ganzen 
“Gruppen schutzbedürftiger Flücht¬ 
linge” aus dem Asylverfahren. 


Mehrere hundert Kurdinnen besetzen 
in Bremen das Vereinshaus des am 
Vortage verbotenen Vereines Helvati, 
um damit gegen das Verbot und die 
Schließung des Hauses zu protestieren. 
Ein von der Polizei gestelltes Ultimatum 
verstreicht ohne die angedrohte Räu¬ 
mung. Nach stundenlangen Verhand¬ 
lungen mit Abgeordneten von CDU, 
SPD, Grünen und AfB verkündet die 
Ausländerbeauftragte Bremens, daß die 
Sozialen und kulturellen Aktivitäten im 
Haus fortgeführt werden können. Weil 
sich die evangelischen Kirchen kritisch 


überdas Vereinsverbot geäußert hatten, 
bezichtigt der Innensenator, Ralf Bortt¬ 
scheller, die Bremer Kirchen der Sym¬ 
pathie und Zusammenarbeit mit der 
PKK. 

18.11.95. Alle der 335 Teilnehmer¬ 
innen der am Vortage vom OVG Mün¬ 
ster verbotenen Demonstration “Für 
eine politische Lösung in Kurdistan” 
werden in Köln eingekesselt und fest¬ 
genommen. Die meisten Menschen er¬ 
reichen den Versammlungsort erst gar 
nicht. So werden alle Zufahrtsstraßen 
abgeriegelt und kontrolliert, Aufent¬ 
haltsverbote ausgesprochen, in meh¬ 
reren Städten schon die Abfahrt der 
Busse verhindert und Menschen an den 
Bahnhöfen zurückgewiesen. Die Ver¬ 
anstalterinnen berichten im Nachhinein 


von brutalen Mißhandlungen durch 
Polizistlnnen. Demonstrantlnnen 
werden Treppen hinuntergestoßen, 
geschlagen und gewürgt. 

20.11.95. 40 Abschiebehäftlinge im 
Knast Kruppstraße (Berlin) beginnen 
einen unbefristeten Hungerstreik. Sie 
protestieren damit gegen die schlechten 
Haftbedingungen, die langen Haftzei¬ 
ten, das schlechte Essen, die unzurei¬ 
chende medizinische Versorgung, die 
Behandlung durch das Personal, die 
oberflächliche Prüfung der Anträge auf 



SF 1/96 [7] 


Foto: Herby Sachs /Version 




















Foto: Herby Sachs/Version 


Haftverschonung und die geplante 
Umverlegung in den neuen Knast in 
Grünau. Ein 18jähriger palästinen¬ 
sischer Häftling, der einen Selbstmord¬ 
versuch begeht, wird in eine Einzelzelle 
verlegt. 2 Tage später befinden sich 
noch 13 Häftlinge im Hungerstreik. Der 
ausländerpolitische Sprecher von 
Bündnis 90/Grüne, Ismail Kosan, ver¬ 
sucht am 21.11. die Häftlinge zar Auf¬ 
gabe zu bewegen, da ein Hungerstreik 
keil} geeignetes Mittel sei, um die 
Mißstände im Knast abzuschaffen. 

Der bayerische Verwaltungsge¬ 
richtshof weist die Klagen von 4 kur¬ 
dischen Vereinen zurück und bestätigt 
damit die Verbotsverfügungen des In- 
nenminsters Beckstein, die mit Unter¬ 
stützung der PKK als Hauptziel der 
Vereine begründet wurden. 



21.11.95. Das Bundesverfassungs-, 
gericht (BVG) beginnt die Verhandlung 
über das seit dem l.Juli 1993 geänderte 
Asylrecht. Von den mehr als 1.500 ein¬ 
gegangen Klagen wählte das B VG fünf 
von abgelehnten Asylbewerberinnen 
aus, an deren Beispiel exemplarisch 
über das Flughafenverfahren, die 
“sichere Drittstaaten”- und “verfol- 
gungsfreieHerkunftsländer”-Regelung 


verhandelt werden soll. An der Ver¬ 
handlung nehmen teil: der Bundesin¬ 
nenminister Manfred Kanther, das 
Bundesamt für die Anerkennung aus¬ 
ländischer Flüchtlinge, der BGS, das 
UNHCR, amnesty international, Ver¬ 
treterinnen karitativer kirchlicher 
Organisationen. Der frühere Vizeprä¬ 
sident des BVG, Emst Gottfried Mah- 
renholz, beklagt den wachsenden Druck, 
den Politikerinnen auf das BVG aus¬ 
üben. Auf dem CDU-Parteitag hatte 
der Innenminister Kanther das BVG 
ausdrücklich davor gewarnt, am Asyl¬ 
recht zu rütteln. Zwei Wochen vor der 
Beginn der Verhandlung betonte Kan¬ 
ther, zwar keinen Druck ausüben zu 
wollen, aber die “innere Stabilität 
Deutschlands” sei gefährdet, wenn auch 
nur ein Element des “Asylkompromis¬ 
ses” von 1993 wegfallen würde. In die 
selbe Kerbe haut der Vorsitzende des 
Rechtsausschusses des Bundestages, 
HorstEylemann (CDU), der vorschlägt, 
das Grundrecht auf Asyl abzuschaffen 
und durch eine “institutionelle Garantie” 
zu ersetzen, da mit der Streichung von 
Teilen des Asylgesetzes der ganze 
“Kompromiß” gescheitert sei: Wer das 
“Asylpaket öffne, öffne ein Ventil, das 
zu ähnlich hohen Flüchtlingszahlen 
führt wie vor der Neuregelung.” Meh¬ 
rere Oppositionspolitikerinnen im 
Bundestag zeigen sich empört über die 
Einflußnahme der CDU auf das BVG. 
In seiner Rede am ersten Verhand¬ 
lungstag verteidigt Kanther erneut das 
neue Asylrecht, welches durch seine 
Beschränkungen erst den Schutz der 
wirklich Verfolgten ermögliche. Der 
Gutachter des BVG Walter Kälin stellt 
fest, daß eine Abschiebung in einen als 
sicher definierten Drittstaat ohne 
vorhergehende Einzelfallprüfung gegen 
das Völkerrecht verstößt. Am zweiten 
Verhandlungstag, dem 22.11., stehen 
Kettenabschiebungen im Vordergrund, 
ai und das UNHCR beschreiben mehrere 
Fälle von Kettenabschiebungen und 
widersprechen damit Kanther. Am 
dritten Tag, dem 23.11., geht es haupt¬ 
sächlich um die Flughafenregelung. 
Eine Vertreterin des Bundesamtes gibt 
zu, daß die Flüchtlinge nicht auf ihre 
Rechte und den Ablauf des verkürzten 
Asylverfahrens auf dem Flughafen 
hingewiesen werden. Ein Mitarbeiter 
des Flughafensozialdienstes erklärt, daß 
die Flüchtlinge bis zu einem halben 
Jahr in dem Flughafenknast gefangen 


gehalten werden. Am 5. Dezember soll 
die Verhandlung forgesetzt, im Frühjahr 
1996 ein Urteil gefällt werden. ! 

23.11.95. Die Innenminster der 
europäischen Union einigten sich im 
Zuge der Angleichung der Asylpolitik 
auf eine gemeinsame Definition des 
politischen Flüchtlings. Bürgerkrieg 
oder gewaltsame Konflikte, zu er¬ 
wartende Bestrafungen als Kriegs¬ 
dienstverweigerer oder Deserteur und 
Verfolgung durch nichtstaatliche 
Organisationen sind keine ausreichen¬ 
den Gründe, um aus politischen Grün¬ 
den Asyl zu erhalten. Außerdem be¬ 
schlossen die Minister, enger bei den 

V isa-Erteil ungen zusammenzuarbeiten 
und für einige Herkunftsländer (u.a. Sri 
Lanka, Pakistan, Afghanistan, Bangla¬ 
desh, Ghana) Flughafentransitvisa 

zwingend vorzuschreiben. 

Bei der Vorstellung des Berichts zur 
Lage der Ausländer ruft die Ausländer- 
beauftragte der Bundesregierung, Cor¬ 
nelia Schmalz-Jacobsen, zu einer Aus¬ 
bildungsinitiative für ausländische 
J ugendliche auf. Die Arbeitslosenqoute 

für Ausländerinnen lag 1994bei 16,2 
7% mehr als die durchschnittliche Ar¬ 
beitslosenquote. 

24.11.95. Der bayerische Innenmini¬ 
ster Günter Beckstein (CSU) spricht 
sich für die Ausweisung und Abschie¬ 
bung der400.000 in der BRD lebenden 

bosnischen Bürgerkriegsflüchtlingen 

aus. “Zuerstmflssen diejenigen zurück¬ 
kehren, deren Häuser und Wohnungen 
noch stehen” - so Beckstein, der die 
Ausarbeitung eines Stufenplanes für die 
Rückführungen vorschlägt. Beckstein 
bezeichnet seine Bemühungen als “ein 
Stück praktischer Aufbauhilfe”.; 

Der Bayerische Verwaltungsge¬ 
richtshof entscheidet, daß das Verwal¬ 
tungsgericht Ansbach noch mal über 
den Asylantrag des syrisch-orthodoxen 
Christen, Semon Oguz, aus der Türkei 
verhandeln muß. Da der Asylantrag, 
Folgeantrag und mehrere Klagen abge¬ 
lehnt und Abschiebehaft angeordnet 
wurde, begab sich Oguz im Juli 95 ins 
Kirchenasyl in Augsburg. 

26.11.95. Nach 19 Tagen setzen die 
kurdischen Familien Basak und Nayir 
ihren Hungerstreik aus, da es “münd- 


[8] SF 1/96 













liehe Zusicherungen aus dem politi¬ 
schen Raum” gab, ihr Verfahren erneut 
und positiv zu behandeln. Außerdem 
kündigten mehrere Kirchen in Hannover 
an > den Familien im Notfall Kirchenasyl 
zu gewähren, (siehe 8.11.95) 

Am zweiten Jahrestag des Verbots 
der kurdischen Arbeiterpartei PKK in 
der BRD demonstrieren in verschie¬ 
denen deutschen Städten tausende 
Kurdinnen. Die Polizei ging massiv 
dagegen vor und verhaftete hunderte 
von Teilnehmerinnen. So wird in Essen 
e >ne Sitzblockade aufgelöst (150 Fest¬ 
nahmen und5 verletzteBullen aufgrund 
der heftigen Gegenwehr), 2.500 Kurd¬ 
innen demonstrieren in Saarbrücken und 
in Ulm kommt es zu 78 Verhaftungen. 
We meisten Veranstaltungen wurden 
schon im Vorfeld verboten. 

27.11.95. Gegen einen Berliner Poli¬ 
zisten wird wegen Mißhandlung eines 
Libanesen ein Ermittlungsverfahren 
eingeleitet. Mitte November 95 hat der 
Beamte den Rollstuhlfahrer auf der 
S traße grundlos angehalten, geschlagen 
und verletzt. Anschließend versuchte 
der Beamte, den Libanesen die Anzeige 
gegen ihn zurücknehmen zu lassen. 

28.11.95. In Erfurt demonstrieren 200 
Vietnamesinnen gegen die drohende 
Abschiebung von 2.000 Vietnames¬ 
innen aus Thüringen. Der Innenminister 
von Thüringen kündigt eine Initiative 
an, nach der die Bleiberechtsregelung 
in Thüringen verbessert werden soll. 
So soll die in der DDR verbrachte Zeit 
bei der Erteilung einer Aufenthaltser¬ 
laubnis angerechnet werden. 

30.11.95. Ein Dolmetscherbüro, 14 
Privatwohnungen und die Räume des 
Kurdischen Eltemvereins werden in 
München von der Polizei durchsucht, 
der Verein verboten und das Vermögen 
beschlagnahmt. Vorgeworfen wird dem 
Verein die Sympathei mitderPKK, die 
“Durchführung entsprechender Veran¬ 
staltungen” über die Situation in Kur¬ 
distan und der Besuch der Veranstal¬ 
tungen durch PKK-Aktivistinnen. Am 
2.12. besetzen 39 Kurdinnen die Räume 
des Vereins und fordern die Wieder¬ 
zulassung. 200 Polizeibeamtinnen 
riegeln die Umgebung weiträumig ab 
und Spezialeinheiten stehen zur Stür- 
mung bereit. Vermittlungsversuche von 


Anwältlnnen unterbindet die Polizei. 
In der Nacht zum 3.12. endet die Be¬ 
setzung “friedlich ” mit der Zusage des 
Oberbürgermeisters, Christian Ude 
(SPD), einen neuen Verein gründen zu 
dürfen, wenn dieser sich nur kulturell 
und nicht politisch betätigt. Die Be¬ 
setzerinnen werden von der Polizei 
abgeführt und verhaftet. Ihnen wird 
versuchte schwere Brandstiftung, 
Hausfriedensbruch, Vergehen gegen 
das Waffen- und Vereinsgesetz, Sie¬ 
gelbruch und Nötigung vorgeworfen. 
Am 4.12. erläßt das Langericht gegen 
23 Kurdinnen Haftbefehl. Der Ober¬ 
staatsanwalt teilt mit, daß ihnen Haft¬ 
strafen bis zu 5 Jahren drohen. Die CSU 
fordert die sofortige Abschiebung der 
“Extremisten”. 

In Bonn wird auf Anordnung des 
Bundesinnenministeriums die Infor¬ 
mationsstelle Kurdistan durchsucht und 
Computer, Geld, Fax sowie sämtliche 
Aktenordner beschlagnahmt. Begründet 
wird dies mit der Behauptung, die Info¬ 
stelle sei eine Nachfolgeorganisation 
des 1993 verbotenen Kurdistan-Komi¬ 
tees Köln. 

Der Nigerianer Saliv Mvunvru Gbo- 
lahan sitzt erneut im Abschiebeknast. 
Sein einziges Verbrechen: er wollte 
freiwillig aus der BRD ausreisen, nach¬ 
dem er zwei Jahre als abgelehnter Asyl¬ 
bewerber in der BRD gelebt hatte. Doch 
der B GS nahm ihn am 1.11.95 auf dem 
Frankfurter Flughafen fest, weil er 
falsche Paßpapiere hatte. Am 16.11.95 
wurdeer aufgrund des Abschiebestopps 
für Nigeria aus der Haft in Offenbach 
entlassen. Die Ausländerbehörde in 
Hildesheim beantragte jedoch sofort 
wieder Abschiebehaft, da zurZeit keine 
Abschiebungen nach Nigeria stattfinden 
können, aber er trotzdem ausreise¬ 
pflichtig wäre. Seitdem wartet er, wie 
auch andere Flüchtlinge aus Nigeria, 
im Knast in Wölfenbüttel auf seine 
Abschiebung. Da er seine deutsche 
Freundin heiraten will und sich in 
Nigeria nur die erforderlichen Papiere 
besorgen wollte, zerschlägt die In¬ 
haftierung alle seine Pläne: nach einer 
Abschiebung unterliegt er einem mehr¬ 
jährigem Wiedereinreiseverbot und 
müßte bei Wiedereinreise die Abschie- 
bekosten erstatten. 

2.12.95. In Kassel findet eine bun¬ 
desweite Demonstration gegen Ab- 


schiebeknäste statt. Die ca. 700 Teil¬ 
nehmerinnen fordern die Freilassung 
der Meuterer, die am 24.7.1994 im 
Abschiebeknast Elwe (Kassel) bei 
einem Aufstand einen Wärter alsGeisel 
genommen haben und inzwischen zu 
hohen Haftstrafen verurteilt wurden. 
11 der Meuterer erhielten Haftstrafen 
zwischen 18 Monaten und fünfeinhalb 
Jahren. Lediglich ein GSG9-Reamter 
wurde wegen Körperverletzung 
(Schläge in den Magen) zu 4.800 DM 
auf Bewährung verurteilt, obwohl es 
nach Niederschlagung der Revolte zu 
schlimmen Mißhandlungen an den 
Gefangenen gekommen war. ' 

3.12.95. DerparlamentarischeStaats- 
sekretär im Arbeitsministerium, Horst 



Günther, teilt mit, daß die Anzahl der 
Fahnderinnen gegen die illegale Be¬ 
schäftigung von Ausländerinnen von 
450 auf ca. 1500 im Jahre 1996 auf¬ 
gestockt werden soll, um eine “Kon¬ 
trolle Tag und Nacht - auch am Wo¬ 
chenende” zu ermöglichen. Außerdem 
soll die Höchstgrenze der Bußgelder 
von 100.000 auf 200.000 DM erhöht 
werden. 


2 


S 

I 

00 

8 


1. 

1 


SF 1/96 [9] 













Der Bundestag beschließt einen Ge¬ 
setzentwurf, nach dem ein Flüchtling, 
der aus der Abschiebehaft heraus seinen 
ersten Asylantrag stellt, nicht sofort 
entlassen werden muß, sondern 4 Wo¬ 
chen in Abschiebehaft gehalten werden 
kann. Diese 4-Wochen-Frist kann 
verlängert werden, wenn der Asylantrag 
voraussichtlich als “offensichtlich 
unbegründet” oder “unbeachtlich” ab¬ 
gelehnt werden wird. 


4.12.95. Erika Drees wird zu einer 
Geldstrafe von 15 Tagessätzen über 70 
DM verurteilt. Sie hatte einen Aufruf 
zur gewaltfreien Entzäunung des Ab- 
schiebeknastes in Worms .(10.12.94) 
unterzeichnet. Ein Großaufgebot der 
Polizei hat die Aktion damals verhindert. 
Die Staatsanwaltschaft leitete gegen alle 
600 Unterzeichnerinnen des Aufrufs 



g Ermittlungsverfahren ein. Die meisten 
*g wurden gegen Zahlung von 300 DM 
;> eingestellt. Wer Widerspruch einlegte, 
t mußte meist nichts zahlen, das Ver- 
^ fahren wurde trotzdem eingestellt. 5 
u Mitglieder des Aktionskreises wurden 

| ebenfalls zu 15 Tagessätzen verurteilt, 

m 7 zu 30 Tagessätzen wegen Auffor- 
2 derung zur Sachbeschädigung bzw. 
Landfriedensbruch. Einer der Richter, 
Hertz-Eichenrode, betonte, daß die 
Ausländerinnen “die nationale Identität 


zerstören” würden. 

5.12.95. Das “Kurdistan Informa- 
tionszentrum” in der Mainzer-Land¬ 
straße (Frankfurt/Main) wird auf An¬ 
weisung des hessischen Innenministers 
geschlossen, verboten und ein Großteil 
der Einrichtung beschlagnahm t. In den 

folgenden Tagen intensiviert die Polizei 

massiv ihre Präsenz in der Umgebung, 
um eventuelle Protestaktionen schon 
im Keim zu ersticken. Der Vorstand 
des Zentrums will vor dem Verwal¬ 
tungsgerichtshofklagen, da die Schlie¬ 
ßung ihrer Meinung nach sachlich 
grundlos ist und lediglich vor dem 
Hintergrund des Deutschlandbesuches 
der türkischen Ministerpräsidentin am 
gleichen Tag und der geplanten Auf¬ 
nahme der Türkei in die europäische 
Zollunion zu verstehen sei. Die Kom¬ 
munale Ausländervertretung der Stadt 
fordert die Aufhebung des Verbotes. 
Ebenfalls am gleichen Tag durchsucht 
die Polizei und verbietet der Innenmi¬ 
nister den ‘Kultur- und Unterstützungs¬ 
verein des Kurdischen Volkes” in 
Frankfurt/Main und “besucht” auch die 
Wohnungen der Vereinsvorsitzenden. 
Begründet werden beide Verbote mit 
der Unterstützung der PKK. 

Die Verhandlung des BVG über das 
Asylrecht wird fortgesetzt und beendet. 
In der Verhandlung über die “sichere 
Herkunftsländer”-Regelung stellt sich 
heraus, daß das Auswärtige Amt in 
seinen Lageberichten Hinrichtungen in 
Ghana(1990:9,1993:12) verschwiegen 
hatte. Gegenteilige Meinungen von 
Landesjustizministerien und Verwal¬ 
tungsgerichten wurden bei der Ein¬ 
stufung Ghanas als sicheres Herkunfts¬ 
land ignoriert. Der Prozeßbevollmäch¬ 
tigte Kanthers, Prof. Kay Hailbronner, 
kündigt als Folge der Verhandlungen 
an, das Flughafenverfahren zu verein¬ 
heitlichen und gesteht “Defizite und 
Übergangsprobleme” bei der Drittstaa¬ 
tenregelung ein. Es wird der Fall einer 
Iranerin vorgetragen, die zwischen der 
BRD und der Tschechischen Republik 
hin- und hergeschoben wurde. Kanther 
erklärt zum Abschluß der Verhandlun¬ 
gen, daß die Asylgesetze prinzipiell 
bestätigt worden wären. AufEinzelfälle, 
die das Gegenteil beweisen könnten, 
will sich seine Behörde flexibel einstel¬ 
len, wie bei der damaligen Streichung 
Gambias von der Liste sicherer Her¬ 


kunftsländer. Ähnliches könnte er sich 
mit Ghana vorstellen. Ein Urteil wird 
für Februar 1996 oder später erwartet. 
Der sächsische Justizminister, Steffen 
Heitmann, fordert, daß individuelle 
Grundrechtauf Asyl abzuschaffen, falls 
das BVG Teile des Asylkompromisses 
für verfassungswidrig erklärt. 

6.12.95. Im November 1995 kamen 
13.153 Asylbewerberinnen in die BRD. 
davon ungefähr 3.330 aus Serbien und 
Montenegrien, 2.400 aus der Türkei. 
Das ist der höchste Monatswert seil fast 
2 Jahren. Die Anerkennungsqubtc be¬ 
trug im November 8%. 

Der abgelehnte kurdische Asylbe¬ 
werber Ahmet Demirkiran karin sich 
seiner drohenden Abschiebung durch 
Fluchtaus der Psychiatrie Erlangen ent¬ 
ziehen. Eine Kirchgemeinde aus Höch- 
stadt bringt ihn in Sicherheit. 

7.12.95. Der Düsseldorf Ländtag 
(Nordrhein-Westfalen) setzte als zwei¬ 
tes Bundesland nach Berlin eine EU- 
Richtlinie in Landesrecht um, nach der 
EU-Ausländerinnen ab 1996 bei den 
Kommunalwahlen wahlberechtigt sind. 

Bayerns und Rumäniens Innenmi¬ 
nistervereinbaren eine engepolizeiliche 
und geheimdienstliche Zusammenarbeit 

gegen die “rumänisch-deutschen Ver¬ 
brecherbanden”, die seit 1990 allein in 
Bayern 200 Straftaten verübt hätten und 
1994 5.000 in der gesamten BRD. So 
beschließen Günter Beckstein und Ioari 
Dora Taracila den Austausch von poli¬ 
zeilichen Erkennmissen, Fotos, Fin¬ 
gerabdrücken, Zeuginnen und Be¬ 
schuldigten, gemeinsame Fortbil¬ 
dungskurse für Polizistlnnen, gegen¬ 
seitige Besuche der Fahnderinnen und 
Sicherheitsexpertinnen, die Förderung 
persönlicher Kontakte sowie die Erar¬ 
beitung einer gemeinsamen Strategie 
gegen das “internationale Verbrechen”. 
Die Qualität von Interpol sei für die 
internationale Arbeit keineswegs aus¬ 
reichend. 

Das Bundesinnenministerium (BMI) 
will die Verantwortung für die Ab¬ 
schiebung von Flüchtlingen loswerden. 
Deshalb verhandelt das BMI mit der in 
Genf ansässigen Internationalen Orga- 
msation für Migration (IOM), welche 
o e Koordination der Abschiebungen 
übernehmen soll. Die IOM, eine zwi- 


[10] SF 1/96 













schenstaatliche Organisation 59Länder, 
organisiert zurZeit schon die freiwillige 
Ausreise und Weiterwanderung von 
Flüchtlingen (20.000 Flüchtlinge jähr¬ 
lich aus der BRD in ihre Herkunfts¬ 
länder, darunter 17.000 abgelehnte 
Asylbewerberinnen). Die Meinungen 
bei der IOM überdas Angebot des BMI 
vom 21.9.95 sind geteilt. Ein internes 
IOM-Papier warnt davor, daß bei der 
Ablehnung Bund und die Länder die 
Gelder für die IOM streichen könnten 
und betont den Vorteil einer zentralen 
Ausreise- und Abschiebeverwaltung. 

11.12.95. Das Amtsgericht Wies¬ 
baden verurteilte einen Kurden zu 18 
Monaten Haft ohne Bewährung und 
verhängte damit ein weit höheres Straf- 
m aß, als von der S taatsanwaltschaft ge¬ 
fordert (7 Monate auf Bewährung). Der 
Kurde soll während einer verbotenen 
Demonstration im März 1994 eine 
Bcnzinflasche - ohne sie angezündet zu 
haben - mehrmals in Richtung Polizei 
geworfen haben. 

Das Landgericht Magdeburg bestätigt 
den Freispruch eines Polizisten durch 
das Amtsgericht. Der Polizist hatte am 
Himmelfahrtstag 1994 bei den rassisti¬ 
schen Ausschreitungen in Magdeburg 
einen Flüchtling aus Irak bei der Fest¬ 
nahme getreten. Weitere 15 Ermitt¬ 
lungsverfahren gegen Polizistlnnen 
wurden schon eher mangels Beweisen 
eingestellt. Sie hatten damals die Afri¬ 
kaner, die vor den Hools und Faschos 
flüchteten, festgenommen, geschlagen 
bzw. durch die Verfolger verprügeln 
lassen ohne einzuschreiten. 

12.12.95. Das Verwaltungsgericht 
Wiesbaden entscheidet, daß bosnischen 
Bürgcrkriegsflüchtlingen nach §32a 
AuslG eine Aufenthaltsbefugnis erteilt 
werden muß und nicht nur - wie es die 
gängige Praxis ist - eine Duldung. Die 
Städte Frankfurt/Main, Wiesbaden und 
der Kreis Main-Kinzig hatten geklagt, 
damit das Land Hessen die Kosten für 
d i e bosn ischen Flüchtlinge übernehmen 
muß. Die Kosten für Flüchtlinge mit 
Duldung müssen in Hessen die Kom¬ 
munen tragen. Das Land Hessen willigt 
in die Erteilung einer Befugnis jedoch 
nur ein, wenn der Bund die Hälfte der 
Kosten übernimmt und die Niederlas¬ 
sungsfreiheil der Flüchtlinge einge¬ 
schränkt wird, so daß in jedem Bundes¬ 
land gleichmäßig viele untergebracht 


sind. 

Die SPD fordert, Ghana von der Liste 
“verfolgungsfreier Herkunftsstaaten” 
zu streichen. Die Verhandlung vor dem 
BVG habe gezeigt, daß das Auswärtige 
Amt den Bundestag falsch informiert 
hätte, (siehe 5.12.95) 

Nach Angaben der Bundesregierung 
leben zur Zeit 6,99 Millionen Auslän¬ 
derinnen in der BRD (8,6% der Ge¬ 
samtbevölkerung). 22,4% der Aus¬ 
länderinnen stammen aus einem EU- 
Land, 28% aus der Türkei. 

13.12.95. Ein Kurde übergießt sich 
auf dem Hamburger Hauptbahnhof mit 
Benzin und zündet sich an. Er erleidet 
dabei lebensgefährliche Verletzungen. 
Der seit 1993 in der BRD lebende Kurde 
hat eine Abschiebungsverfügung für 
den 14.12. erhalten. Die Polizei streitet 
ab, daß der Selbstmordversuch etwas 
mit der Ausweisung zu tun hat, sondern 
gibt dem Kurden, der mit Drogen han¬ 
deln würde und deshalb Probleme 
bekommen habe, selbst die Schuld. 

In Hamburg beginnt der erste Prozeß 
im Rahmen des Hamburger Polizei¬ 
skandals gegen einen Polizeibeamtem, 
der einem Afrikaner Desinfektionsspray 
ins Gesicht gesprüht hat. In zwei anderen 
Fällen ergingen inzwischen ohne eine 
Verhandlung Strafbefehle wegen Frei¬ 
heitsberaubung und Nötigung. Sechs 
Verfahren wurden eingestellt, 13 andere 
laufen noch. 

amnesty international erklärt gegen¬ 
über dem Bürgermeister Bremens, 
Henning Scherf, daß die zwangsweise 
Verabreichung eines Brechmittels an 
mutmaßliche Drogendealerlnnen 
“grausam, unmenschlich und erniedri¬ 
gend sei”. Vor allem Ausländerinnen 
werden in Bremen von der Polizei ge¬ 
zwungen, den Brechsirup zu trinken, 
um während des Stunden andauernden 
Erbrechens eventuell verschluckte 
Drogenpäckchen zu Tage zu befördern. 
Wer sich wehrt, wird häufig geschlagen 
und schikaniert. Die S taatsanwaltschaft 
ermitteltauf Betreiben des Bremer Anti- 
Rassismus-Büros gegen zwei Polizisten 
und einen Gerichtsmediziner. 

In dem Berliner Wohnheim Zingster 
Str. (Hohenschönhausen), welches vor 
allem von vietnamesischen ehemaligen 
Vertragsarbeiterinnen bewohnt wird, 


findet eine mehrstündige Polizeirazzia 
statt. 175 Personen werden festgenom¬ 
men und erkennungsdienstlich behan¬ 
delt. DiePolizei begründet ihrenEinsatz 
mit der “Gefahrenabwehr” und der 
Suche nach “Illegalen und Straftätern”. 
Die Razzia fällt praktischerweise in die 
Zeit der geplanten Schließung dieses 
Wohnheimes, welches der Arwobau 
untersteht. Alle Mieterinnen der Zing¬ 
ster Str. erhielten ihre Kündigungen für 
den 31.12.95. Ersatzwohnraum ist noch 
nicht in Sicht. 



14.12.95. Die ökumenische Arbeits¬ 
gemeinschaft “Asyl in der Kirche” ap- 
pelliertan die Innenministerder Länder, 
einen sofortigen Absehiebestopp für 
Kurdinnen und Christinnen aus der 
Türkei zu erlassen. Von ca. 120 Flücht¬ 
lingen, die sich zur Zeit in der BRD im 


Kirchenasyl befinden, stammen über 
die Hälfte aus der Türkei. 

Die Innenminster der Länder und der 
Bundesinnenminister entscheiden sich 
auf ihrer Konferenz in Erfurt für eine 
gestaffelte Rückführung von 320.000 
Bürgerkriegsflüchtlingen nach Bosnien. 
Aufgrund der “winterlichen Bedin¬ 
gungen” soll den Flüchtlingen noch et¬ 
was Zeit gegönnt werden. Der bis zum 
31.3.96 gültige Absehiebestopp wird 

SF 1/96 [11] 














nicht noch einmal verlängert. Wer nach 
dem 15.12.95 einreist erhält keine 
Duldung, Die Einzelheiten der Rück¬ 
führung, wie der Abschluß eines Rück¬ 
führungsabkommens, sollen im Januar 
1996 auf einer Sonder-Innenminister- 
konferenz beschlossen werden, Rund 
50 Vertreterinnen bosnischer Flücht¬ 
lingsvereine protestieren vor dem Ge¬ 
bäude und halten eine Mahnwache ab. 
Die* Minister sprechen sich für eine 
engere Zusammenarbeit mit Rumänien 
in der Bekämpfung der organisierten 
Kriminalität aus und für ein verstärktes 
Vorgehen gegen das “Problem ständig 
steigender Ausländerkriminalität”. 

Ein Flüchtling aus Bulgarien, der am 
heutigen Tage abgeschoben werden 
sollte, begeht zwei Selbstmord versuche. 
Erst stürzt er sich in seiner Wohnung in 
Fulda aus dem Fenster, danach versucht 
er sich auf der Polizeiwache in Neuhof 
mit seinem Schnürsenkel zu erhängen. 

Der Bundesrat lehnt den Gesetzent¬ 
wurf der B undesregierung vom Oktober 
95 über ein neues Asylbewerberlei¬ 
stungsgesetz ab. Das geschieht jedoch 
nicht hur wegen der umfangreichen 
Kürzungen für Flüchtlinge sondern auch 
weil das neue Gesetz an die Streichung 
der Arbeitslosenhilfe geknüpft ist. Die 
SPD-regierten Länder sprechen sich 
gegen eine unbefristete Reduzierung 
der Sozialhilfe um 20% aus (bislang: 1 
Jahr lang), treten jedoch gleichzeitig 
für eine Verschärfung ein, was den 
betroffenen Personenkreis angeht: so 
sollen Bürgerkriegsflüchtlingezukünf¬ 
tig wie Asylbewerberinnen behandelt 
werden, d.h. reduzierte Leistungen er¬ 
halten. Die Wohlfahrtsverbände der 

Kirchen, Diakonie und Caritas, kriti¬ 
sieren in einer gemeinsamen Presseer¬ 
klärung das geplante Asylbewerberlei¬ 
stungsgesetz. Es beeinträchtigt das 
Grundrecht auf körperliche Unver¬ 
sehrtheit, grenzt Asylbewerberinnen aus 
und verletzt den Gleichheitsgrundsatz. 

16.12.95. In Berlin findet eine De¬ 
monstration gegen den im November 
95 eröffneten Abschiebeknast Grü- 
nauerstr. statt. Im neuen Knast sind 
inzwischen 170 der 350 Plätze belegt. 
Unter anderem die hungerstreikenden 
Flüchtlinge aus dem Knast in der 
Kruppstr. wurden in die Grünauerstr. 


verlegt. Außer der Überbelegung der 
Zellen hat sich ihre Situation dadurch 
aber nicht geändert. Ob die Kruppstr. 
geschlossen wird oder als zusätzlicher 
Abschiebeknasterhal ten bleibt, istnoch 
nicht geklärt. 

Wegen einer Schießerei auf dem S- 
Bahnhof Treptower Park (Berlin), bei 
der ein Vietnamese erschossen wurde, 
verstärkt die Polizei ihre Arbeitsgruppe 
“Vietnam”. 


Die Chronik ist in ihrem vollen Umfang 
(deT SF muß auf Platzgründen immer 
wieder Meldungen herausnehmen) als 
txt.-Datei oder als doc.-Datei auf 
Diskette beziehbar. Auf ihr befindet sich 
auch ein erster Index mit Stichworten 
sowie Hinweise auf Zeitungsartikel, die 
die gesammelten Daten und Aussagen 
belegen. Wer sich dafür interessiert, 
kann sich an die Redaktion oder am 
besten direkt an den Infoladen Leipzig 
wenden: Infoladen (im Corme Island), 
Koburger Str. 3,04277 Leipzig 


Neuerscheinung 


focus 

philippines 

Journal 6f »he Stiftung für Kinder 


Voi.m 

No. 2 

November 1995 


Herausgegeben in 
Kooperation mildem 
Philippwenbüroe.V. 





Operation Bondoc 

Deutsche Entwicklungshilfe 
zur AufsUndsbekämpfu ng 


Deuljche Auigabe 


Karl Rössel: 

Operation Bondoc 

Deutsche Entwicklungshilfe zur Aufstands¬ 
bekämpfung 

Herausgegeben von der Stiftung für Kinder, Freiburg i.Br. 
und dem Rhilippinenbüro e.V. im Asienhaus, Essen 

120 Selten mit Abbildungen, broschiert, DM 18,- incl. Versand 
secolo Verlag, D - 49074 Osnabrück 
ISBN 3-929979-26-8 


In den achtziger Jahren wählte & 
Bundesregierung für ihr 
entwicklungspolitisches Projekt in de" 
Philippinen ausgerechnet eine Hoch- 
bürg der NPA-Guerilla aus: die ab9 e ' 
tegene Bondoc-Halbinsel. jZunäcns 
wollten die bundesdeutschen P r °) e ^ e 
betreiber dort den Bau einer ^ tra 'L l 
durch das umkämpfte Gebietfördä 
- ein Wunsch des philippinischen M'' 
tärs. Aufgrund heftiger öffentlicher n 
tik mußte dieser Plan fallerigelasse 
werden. Seitdem führt die Gesellscn# 

für Technische Zusammenarbeit 
dort ein auf 15 Jahre angelegtes "in*^ 
griertes ländliches EntwickJungsp^ 
jekT durch: das Bondoc Devetop^ 
Program. \ 

Wie Karl Rössel bei Recherchen v°' 
Ort herausfand, fügt sich auch da 
aktuelle GTZ-Konzept .exakt in d\ 
Strategie der Aufstandsbekämpfu^ 
des philippinischen Militärs ein. Dl 
•Entwicklungshelfer* sammeln sog 
Spitzelinformationen über die Gueni 
und beraten sich regelmäßig mit de 
Militärs. 

Bezeichnend ist zudem das Innenie* 
ben des Projekts: ein GTZ-Berat e 
vor Ort verdient so viel wie alle 4 

philippinischen Projektmitarbeiter zjj' 
sammen. Während die Zielbevo ■ 
kerung in Elendshütten leben mu߬ 
ließ die GTZ für ihre beiden de«' 
sehen “Experten* Luxusvillen mi 
Privatstrand bauen. 

Dieser Band dokumentiert mit bislang 
unveröffentlichten internen Projekt' 
papieren und ‘Protokollen sowie Stel¬ 
lungnahmen von Beteiligten und Ver¬ 
antwortlichen einen entwickiungs- 
politischen Skandal ersten Ranges. 


Bestellungen an: 

phifippinenbüro e.V. 
im Asienhaus 

Bullmannauetl 
45327 Essen 

Tel: 0201 - 8303828 
Fax 0201 - 8303830 



[12] SF 1/96 










von Michael Wilk 




mpi 




W0§M 

SSfftSS^" 


W$ J ' : 'ß<£k 

M.e*i 


1. Eigen(mächtig)es 
Denken und Handeln 


I jjjl nur noch bei Anhängerinnen von 
SS| Systemen mit starrer linearer Hirarchie 
IUI lösen diese Begriffe Angst und Schrek- 
ken aus, stehen für Gehorsamsverwei- 
B8 gerung und staatsgefährdende Insubor- 
jj§| dination. Der moderne, aufgeklärte 
ipj| Mensch denkt in der Regel anders, nicht 
: : | ! Untertanengeist ist gefragt , sondern 

jj|p|j|l^ Selbstbewußtsein und Selbstständig- 
it ilgl keit. 

I Nicht das die “alten” Qualitäten, seien 
es z.B. Gehorsam und Anpassung ihren 
Wert verloren hätten, aber weg vom 
rein passiven Ausführen einer Anwei¬ 
sung , wird nun ein erweitertertes aktives 
Agieren in eigenem Verantwortungs¬ 
bereich erwartet So klingt die Forde¬ 
rung nach “Flexibilität und kreativem 
Umgang bei Problembewältigung” 


Foto: Herby Sachs/Version 


nicht nur freundlicher, sondern be¬ 
zeichnet tatsächlich das Bestreben, die 
“alten” Tugenden, um die einer “Eigen¬ 
verantwortlichkeit” zu erweitern, die 
im ökonomischen Bereich eine höhere 
Effektivität und im psycho- sozialen 
eine stärkere Anbindung zur Folge hat 
Wenn heutzutage immer mehr Be- 
grifflichkeiten aus (ehern.) linkem Kon¬ 
text in jedem besseren Handbuch für 
Firmenmanagement zu finden sind, so 
steht dies weniger für das Durchset¬ 
zungsvermögen diverser systemkri¬ 
tischer Ansprüche, sondern vielmehr 




















für die Fähigkeit eines Systems, Ab¬ 
weichungen in bare Münze- und oder 
auch sozialhygienisch zu utilisieren. 

Die Ansätze einer außerparlamenta¬ 
rischen Organisierung nach 68 und die 
folgende Bürgerinitiativenbewegung 
haben dem System in diesem Sinne 
einen nützlichen Dienst erwiesen. Sie 
haben, von einem richtigen Ansatz her 
kommend, nämlich der Interessens¬ 
delegation und der parlamentarischen 
Verwaltung der Menschen eine andere 
Ebene entgegenstellen zu wollen, längst 
ihren Schrecken fürdiejenigen verloren, 
die in ihnen die Keimzelle der Anarchie 
sahen. 

Noch 1975 war dies anders: Die 
Bewegung gegen den Bau des Atom¬ 
reaktors bei Wyhl ließ die FA2 er¬ 
schaudern "Hier wird so wenig wie 
möglich sortiert und reglementiert. Bei 
den oft leidenschaftlichen Meinungs¬ 
verschiedenheiten sucht man lediglich 
das unvermeidliche Maß an Überein¬ 
stimmungen. Das geschieht vielfach mit 
erstaunlicher Disziplin. Dennoch haftet 
diesen Bürgerinitiativen etwas anar¬ 
chistisches an. Nicht zufällig entziehen 
sie sich vollständig den Parteien ... " 
(FAZ 14.6.75) 

Bestrebungen sich den Zwangsvor¬ 
gaben der Regierungsvertreter eigen¬ 
initiativ entgegenzustellen, Bau und 
andere Pläne nicht einfach “strahlende” 
Realität werden zu lassen, löste bei uns 
Begeisterung - bei anderen die Vision 
eines zerbröselnden Rechtsstaats aus: 
“ein Alptraum des Bundeskriminal- 
amts-Präsidenten Herold, weil dies 
nach seiner Ansicht das Ziel aller 
«Staatsfeinde» ist: der «bewußte Auf¬ 
bau von Gegenmacht gegenüber diesem 
Staat oder die Leugnung des staatlichen 
Gewaltmonopols-», weshalb bereits der 
Versuch von «Gegenmachtsymbolen» 
zu unterbinden sei. Wyhl - wie auch 
immer es dort ausgehen mag - ist zu 
einem solchen «Gegenmachtsymbol» 
geworden...." (Sebastian Cobler, Die Ge¬ 
fahr geht vom Menschen aus, Rotbuch¬ 
verlag 1976) 

Die Staatsvertreterinnen reagierten 
vorerst klassisch: im Februar 1975 er¬ 
folgte die Räumung des von 20000 
Menschen besetzten Baugeländes mit¬ 
tels eines massiven Polizeieinsatzes. 
Viele Verhaftungen und Strafverfahren 
folgten. Trotz der Versuche den breiten 
Widerstand mit den üblichen Mitteln 
zu kriminalisieren, gelang es nicht, die 
Bewegung zur Aufgabe zu zwingen. 


Das AKW Wyhl wurde nicht gebaut, 
der Widerstand gegen das Projekt wurde 
zum Meilenstein der Bürgerinitiativen¬ 
bewegung, zum vielzitierten Beispiel 
erfolgreichen Vorgehens gegen selbst¬ 
herrliche Staatsmacht, zudem noch 
beispielhaft verkörpert in der Person 
des Ministerpräsidenten Filbinger, des 
früheren NS -Militärrichters (ein Tatbe¬ 
stand, der uns leider damals noch nicht 
bekannt war). 

So sehr auf unserer Seite die Begeis¬ 
terung, für die Möglichkeit die schein¬ 
bare Omnipotenz des Staates zumindest 
partiell zu knacken, zu der Illusion führ¬ 
te, daß mit dem Widerstand gegen das 
Atomprogramm ein entscheidender 
Hebel gegen eine uns autokratisch er¬ 
scheinende Herrschaftsmaschinerie 

gefunden sei, so sehr hinterließen die 

EreignisseaufSeitenderPoIitikerlnnen 

die unangeneme Erfahrung einer neuen 
Art von Konfrontation. Neu deshalb 
weil sich anders als 1968 nicht nur 
wildgewordene Bürgerkinder”, son¬ 
dern die Bürger (und Bauerinnen) selbst 
zu Trägerinnen des Widerstands wurden 
(z.B. den Bauplatz besetzten, ein Hüt¬ 
tendorf errichteten). Der Dissens ge¬ 
genüber dem System war über eine 
leicht zu isolierende radikale Minderheit 
hinausgewachsen, hatte eine Form an¬ 
genommen, die den Rahmen einer üb¬ 
lichen Bürgerpedition deutlich sprengte, 
ja sie verließ sogar den tugendhaften 
Rechtsweg und ging zur direkten Aktion 
über. Eine bittere Angelegenheit in einer 
Situation, in der die staatlichen Organe 
eher auf die Unterstützung ihrer Bür¬ 
gerinnen angewiesen waren, galt es 
doch die gerade im Verlauf der siebziger 
Jahre angewachsen “Bedrohung durch 

terroristischeGruppen”durch “Mithilfe 

der Bevölkerung” in den Griff zu be- 
kommen. 

Die erfolgende massive Aufrüstung 
am Thema “Innere Sicherheit”, die Ver¬ 
schärfung der Strafgesetze und der Pro¬ 
zessordnung sowie die materielle und 
personelle Verstärkung der Polizei 
waren nur der primäre Reflex der staat¬ 
lichen Institutionen auf die vielfältigen 
Gefahren denen sich der Rechtsstaat 
ausgeliefert sah. Diese erste, schnelle 
Antwort der Obrigkeit wurde damals 
mit der Bedrohung der Rechtsordnung, 
die von “terroristischen Organisatio¬ 
nen” (namentlich der RAF und dem 
2.Juni) begründet. Die Zuspitzung der 
Ereignisse, die Verschärfung einer mi¬ 
litant/militärischen Gangart in der Aus¬ 


einandersetzung zwischen Staatsor¬ 
ganen und bewaffhetkämpfenden Grup¬ 
pen waren vordergründiger Anlass für 
jenes staatliche Vorgehen, das in den 
“Deutschen Herbst 77” mündete und 
Deutschland mit einem beispiellos re¬ 
pressiven Klimabelegte. Es ging jedoch 
um mehr, als den Versuch, die relativ 
kleine Guerilla zu zerschlagen; die 
Angst der bundesdeutschen Repräsen¬ 
tanten beschränkte sich nicht auf die 
(zu dieser Zeit zunehmend in die 
Isolation geratenden) Aktionen der RAF 
(erinnert sei an die Entführung der 
Lufthansamaschine Landshut und die 
Selektion der jüdischen Passagiere), 
sondern sie fürchtetenbreiterenUnmut: 
“Die Angriffe auf die Ordnung ” , so der 
damalige Präsident des Bundesverfas¬ 
sungsgerichts, Emst Benda, "haben in 
den terroristischen Aktivitäten nur einen 
besonders dramatischen Ausdruck g e ' 
fanden. Das Gesamtbild ist durchaus 
ernster . Es wird auch im Falle eine? 
vollständigen Zerschlagung solcher 
Tätigkeiten der kriminellen Vereint- 
g ungen weiter Anlaß zu Besorgnis und 
Wachsamkeit geben ... Die Gefahr (geht) 
von gesellschaftlichen Gruppen mit 
verf issungsfeindlicher Zielsetzung aus, 
und die trifft mit einer sich langsam 
verbre itenden Verfassungsverdrossen - 
heit in der Bevölkerung zusammen , die 
sich bei den Älteren in Gleichgültigkeit 
ausdrückt , bei vielen jüngeren Men - 
sehen als Skepsis , offene Ablehnung 
oder romantische Hinwendung zu den 
Idealen anderer Gesellschaftssysteme 
erscheint ’ . (E. Benda,Der Rechtsstaat in 
der Krise, Stuttg.72) 

Daß es weniger um die Ablehnung 
einer abstrakten Verfassung ging, son¬ 
dern (am Bsp. der AKWs) um existen¬ 
zielle Ängste, wie auch um die mangelde 
Möglichkeit auf staatliche Entschei¬ 
dungen, die sich eher an den Bedürf¬ 
nissen der Industriemagnaten als an de¬ 
nen der Bevölkerung orientierte, Ein¬ 
fluß nehmen zu können, kümmerte 
wenig. Ein von der CDU am 4.7.75 vor¬ 
gelegtes “Offensiv-Konzept” beschrieb 
gar schröckliches; “Die Aufnahmebe¬ 
reitschaft für die von den Anarchisten 
vertretenen gesellschaftspolitischen 
Utopien wurde gefördert durch ... (den) 
Verlust von Orientierungswerten; 
(durch) einen fortschreitenden Autori¬ 
tätsverlust des Staates aufgrund einer 
falsch verstandenen Liberalisierung; 

(durch) die gezielt propagierten Zweifel 
familiärer , nachbarschaftlicher und 


[14] SF 1/96 





religiöser Bindungen ... es geht nicht 
an, daß in Jahrhunderten gewachsene 
Werte und kulturelle Leistungen leicht - 
hin in Frage gestellt werden; (daß) jun¬ 
gen Menschen in Schulen und Hoch¬ 
schulen ein Weltbild vermittelt wird , 
das den einzelnen Menschen und von 
ihm geschaffene kulturelle Werte nichts 
and die angebliche Kraft der Gesell¬ 
schaft und deren Evolution alles sein 
läßt ;.. . es ist eine vorrangige Aufgabe 
(des Staates als ordnender Kraft), daß 
äie grundlegenden Prinzipien unserer 
staatlichen Ordnung nicht zur Dispo¬ 
sition gestellt werden (Offensiv- 
Konzept- der CDU, Bonn, 4- 7-1975, S-14) 
Noch genauer brachte es der damalige 
Bundeskanzler Helmut Schmidt auf den 
Punkt, als er das formulierte was damals 
wie heute am meisten von den Damen 
und Herren auf den Regierungsbänken 
gefürchtet wird: " Gefährlicher, ja 
e *istenzbedrohender wäre es, wenn der 
Rechtsstaat die Solidarität und die 
Selbstidentifikation seiner Bürger ver¬ 
löre.” (Rechtspolitischer- Kongreß der 
SPD, zitiert nach Bundestag, 12.6.1975, S- 
!2435, Zit.n.S.Cobler) 

Zeitsprung 

Gut zwanzig Jahre später finden wir 
uns in einer Situation, in der (um am 
Beispiel der Atomenergie zu bleiben) 
sich zwar die weitaus größte Mehrheit 
der Bevölkerung gegen Atomkraftwer¬ 
ke ausspricht, mehrere Großprojekte 
am Widerstand gescheitert sind, aber 
nichtsdestotrotz zig Atommeiler munter 
vor sich hin blubbern. Das Ausstiegs¬ 
programm der SPD ist offensichtlich 
das Papier nicht wert auf dem es ge¬ 
schrieben wurde (wen wunderts) und 
grüne Umweltministerinnen waschen 
sich die Hände in Unschuld, sind sie 
doch den Weisungen aus Bonn unter¬ 
worfen. Nur ein Häuflein Unentwegter 
bemüht sich um Kontinuität, zelebriert 
den sich jährenden Katastrophentag von 
Tschernobyl. Was bleibt sind letzte 
Kristallisationspunkte z.B. Gorleben, 
richtig und wichtig und doch drängt 
sich die Frage auf: Was ist passiert? 
Was ist aus den Befürchtungen Helmut 
Schmidts geworden, deren reziproker 
Wert die Grundlage für die Hoffnung 
auf eine weiterreichende emanzipative 
Bewegung darstellte. 

Die Kriminalisierung der militanten 
Anteile der sozialen Bewegungen waren 


(und sind) wie gesagt, nur der erste 
Reflex auf die Abweichung von der 
Regel und dem populärer werdenden 
zivilen Ungehorsam. Weitaus wirksa¬ 
mer erwies sich die im Laufe der Jahre 
erwiesene Offenheit gegenüber den 
systemkritischen Ansätzen in einer zu¬ 
nehmend differenzierteren Form, wie 
auch die Instrumente offener Repression 
zunehmend differenzierter eingesetzt 
wurden. So wie sich bemüht wurde die 
Fehler der Anfangszeit zu vermeiden 
und z.B. nicht mehr auf alle einzu¬ 


schlagen, oder alle zu verhaften, son¬ 
dern nur noch die als militant Bezeich- 
neten, so wurde sich darum bemüht 
nicht mehr die Inhalte und die Form in 
ihrer Gesamtheit zu verteufeln (“Alles 
Spinner, dann gehen die Lichter aus”). 
Ein Prozess der Zeit und eine gewisse 
Flexibilität erforderte und der der SPD, 
deren “linker Flügel” bis in die Reihen 
diverser Bewegungen reichte, leichter 
fiel als der CDU. Wohlgemerkt ging 
(und geht) es nicht darum, alle Inhalte 
und Ziele der diversen Bewegungen zu 




Preis je Karte DM l,- + p or to 



Kunstvermittlung 

Horst Tress Postfach 660 114, 50708 Köln 










V- die damit zunehmend unter Beweis 


. . reintegrieren - nur das sozusagen halb- 

we S s Verd auliche fand Aufnahme in; 
' die D i skussionsrun den und Parteitags- j 

palaver. Die Gründung und voran- j 
schreitendeEtablierungderGrünen und! 


Foto: Theo Heimann 


gestellte und von den Parteistrategen 
gefürchtete Integrationsunfähigkeit, 
veranlaßten die SPD zwangsläufig dazu, 
einige der, vor allem ökologisch orien¬ 
tierten Punkte in das eigene Programm 
aufzunehmen. Eine forcierte Bündnis¬ 
politik mit den Grünen- deren etablie¬ 
rungswütiger Flügel sich gegen die 
IHussionistlnnen, die geglaubt hatten 
emanzipative Poliük parlamentarisch 
praktizieren zu können, durchgesetzt 
hatte- trug ein übriges dazu bei die 
ursprünglichen Forderungen auf ein 

schluckbares” Maß schrumpfen zu 
lassen. Die aufbereiteten Inhalte und 
Formen wurden dem System einver- 
leibt, und quasi im Verdauungsprozess 
dem Staatsorganismus wieder zuge¬ 
führt. Die Absorbtion progressiver 
Vorhaben findet statt, indem diese so 
ab geschliffen werden, daß sie die 
herrschende Ordnung nicht bedrohen, 
während sie zugleich in dem Ausmaß 
verwirklicht werden, welchesKritikam 
Staat nicht aufkommen täßt.(...)Präziser 
gefaßt bedeutet «Absorbtion», daß ur¬ 
sprünglich transzendierende Einstel¬ 
lungen und Handlungen auf eine Weise 
in die herrschende Ordnung integriert 
werden, welche die dominierenden In¬ 
teressen nicht in Frage stellt." 
(T.Mathiesen, Die lautlose Disziplinierung 
AJZ 1985) 

Helmut Schmidts Partei, die Alt¬ 
meisterin in der Kunst der “Absorbtion” 
hat ihre klassische Funktion längst an 
die Grünen abgegeben, deren Schwie¬ 
rigkeit momentan hauptsächlich darin 
zu liegen scheint, daß es sowenig zu 
absorbieren gibt. 

Da nach diesen Ausführungen leicht 
der Eindruck entstehen könnte, alle An¬ 
deren seien für Integrationsprozesse 
verantwortlich, nur die Trägerinnen der 
ursprünglichen Bewegung nicht, muß 
an dieser Stelle bemerkt werden, daß zu 
jeder Herrschafts- und Machtkonstel- |f 
lation (und um die geht es nach wie vor) 
natürlich mindestens zwei gehören; so ® 
auch hier - die .die integrieren und die ™ 
die es zulassen. 

Festzuhalten bleibt trotzdem, daß 
nach dem mühsamen Entstehen einer 
(z.B. ökologischen) Bewegung, die ein 
erhebliches Maß an Distanz gegenüber 
staatlicher Politik voraussetzte, die bei 
allen Beteiligten viel Mut erforderte 
den Protest in reale Widerstandsformen 
umzusetzen, es neben den inneren Pro¬ 
zessen des Zerfalls, es die “Teile und 


Herrsche Politik” und die Elastizität 
sowie die Integrationskraft des Staates 
war- die zur Schrumpfung der; Bewe¬ 
gung führte. | 

Das System geht gleichsam gestärkt 
aus der Auseinandersetzung hervor- be¬ 
reichert um die ihm nützlichen Inhalte 
der Protestbewegung und auch berei¬ 
chert um die integrationsfähigen Men¬ 
schen, deren erwiesenermaßen kreati¬ 
veres Potential in die gemeinsame “Wir 
-Ebene” der Volksgemeinschaft einge¬ 
bracht und damit gewinnbringend ver¬ 
marktet werden kann. 


2. Zur Bedingung 
Emanzipotiver Prozesse 


Die Erkenntnis» daß Macht in ihrer 

Wirkung innerhalb unserer Gesellschaft 

nicht linear» nicht nur vertikal und hie¬ 
rarchisch verläuft» sondern auch hori¬ 
zontal wirksam ist, eben im Foucault¬ 
schen Sinne " die Menschen in ihfcn 
Maschen zirkulieren läßt ”, zeigt nicht 
nur den Anachronismus der ausschlie߬ 
lich repressionsorientierten Herrschafts¬ 
analytik auf, sondern weist auch jeden 
Menschen ein bestimmtes Quantum an 
Macht zu. Gemeint ist eben nicht das 
ausschließlich passive Unterworfen- 
und ausgeliefert sein unter anonyme 
Machtprozesse» sondern das aktiv/pro¬ 
duktive Funktionieren innerhalb der¬ 
selben. Die damit verbundene Auf¬ 
wertung vom “Objekt” innerhalb der 
eingesetzten Herrschaftsstrategien, hin 
zum Subjekt der gesellschaftlichen Pro¬ 
zesse, läßt nicht nur das Gegenwarts¬ 
individuum seine “Unschuld” aisreines 
Opfer der Verhältnisse verlieren, son¬ 
dern postuliert somit eben auch die 
Möglichkeit der aktiven Einflußnahme. 

Auch wenn diese “ Einflußnahme” ^ 
sich meist auf die Reproduktion von j 
Herrschaftverhalten und Weitergabe f 
von Herrschaftswissen beschränkt, ist 
ihr Ursprung nicht ein durch Entmün¬ 
digung gleichsam vollniveliertes, schier 
entpersonalisiertes Wesen, sondern ein 
Mensch dessen Fähigkeiten, Ressour¬ 
cen und Bedürfnisse auch in der Lage 























sind, das Regelwerk systematischer 
normativer Erfüllung zu verlassen. 

Dies istgewünschtund dienlich (siehe 
Teil I). Abweichung von der Regel ist 
das “Salz in der Suppe” einer modernen 
Herrschaftsstruktur, ist die Grundlage 
dafür, sich auf neue (z.B. Ökonom ische) 
Bedingungen einstellen und reagieren 
zu können. Unbeweglichkeit und Starr¬ 
heit haben sich gegenüber flexibelem 
Umgang mit Irritationen, als die un¬ 
tauglicheren Mittel erwiesen. Es gilt 
somit, nicht nur den Fortbestand der 
Ordnung zu garantieren, sondern auch 
die kreative Potenz der Abweichung 
für sich zu sichern. 

Unter welchen Umständen sich die 
Aktivitäten konform (im Regelfall) und 
unter welchen sie sich dissonant ver¬ 
halten, ist von vielen Faktoren abhängig, 
ist jedoch stets Ergebniss eines spezi¬ 
fischen Prozesses, sowohl einer objekt¬ 
haften Ein- und Zuordnung, einer Funk- 
tionszuweisung durch dss System, sls 
auch der spezifischen Reaktion des In¬ 
dividuums als subjektive/rTrägerin von 
Bedürfnissen und Fähigkeiten, auch 
wenn diese wiederum interaktiv von 
außen erzeugt oder geweckt wurden. 

Die “Bemächtigung” des Menschen 
uurch das System ist also durchaus in 
doppelter Weise zu verstehen: Einerseits 
im repressiv anpassenden - anderseits 
im ausstattendem produktiven Sinne. 

Die Beurteilung gesellschaftlicher 
Zustände in Bezug auf die Möglichkeit 
emanzipativer Prozesse bedarf also, soll 
sie sich auf die vorabbeschriebene Fest¬ 
stellung beziehen, nicht nur der Klärung 
aktueller Herrschaftsmethodik und der 
entsprechenden quanti- und qualitativen 
Verteilung von Macht (einschl. der Ge¬ 
genmacht), sondern vor allem auch die 
Bedeutung einer Resistenz gegenüber 
Integrationsmechanismen. 


FfM.1986 ) dann zur Dominanz, wenn 
sich viele Machtquellen vernetzen und 
damit ein Anspruch auf soziale Unter¬ 
scheidung und Überlegenheit durch¬ 
gesetzt wird. Die Kohäsion, der Zusam¬ 
menhalt der in diesem Netzwerk Pri¬ 
vilegierten läßt sie möglichst alle Zu¬ 
gänge zu denRessourcenfür die Außen¬ 
stehenden verschließen, was eben nicht 
unbedingtprimärmittelspersönlichem, 
bewußtemundabsichtUchemAusschluß 
geschieht, sondern vor allem auch durch 
Strukturen, die eine stabile Asymmetrie 
in der Verteilung von sozialen Positio¬ 
nen, das heißt von politischem und kul¬ 
turellem Einfluß gewährleisten. Diese 
Ungleichheit äußert sich sowohl in dem 
unterschiedlichen Zugang zu Ressour¬ 
cen als auch in der unterschiedlichen 
Repräsentanz und Partizipation in der 
Gesellschaft, was sich über ungleiche 
Chancen im Bildungssystem, im Ge¬ 
sundheitswesen, auf dem Wohnungs¬ 
markt und über soziale Beziehungen 
vermittelt, die bestimmte Gruppen von 
Menschen tendenziell ausschließen” 
(Birgit Rommelspacher, Oominanzkultur, 
Or land a,1995 ) (Anmerkung des Verfas¬ 
sers: B.Rommelspacher unterscheidet 
begrifflich Herrschaft von Dominanz, 
indem sie Herrschaft aisauf Repression 
gegründet- Dominanz jedoch, als auf 
Zustimmung und intemalisierteNormen 
gestütztes Verhältnis definiert. Ich ver¬ 
wende weiter die Bezeichnung “klas¬ 
sische” Herrschaftsmechanismen und 
“moderne” Herrschmechanismen, im 
gleichen Sinne) 

Die Verteilung der Macht, die zwar 
niemanden ausläßt, aber deshalb noch 
lange nicht egalitär verläuft, schafft 
Unterschiedlichkeiten die sich dann zu 
Herrschaftsverhältnissen stabilisieren, 
wenn ein Wechsel der Positionen nicht 
mehr möglich ist- oder direkt verhindert 


l line Strukturen zu liquidieren sucht. 

; " Wenn einem Individuum oder einer 

i gesellschaftlichen Gruppe gelingt, ein 
I Feld von Machtbeziehungen zu blök - 
| kieren, sie unbeweglich und starr zu 
i machen und -mit Mitteln, die sowohl 
| ökonomisch als auch politisch oder mi¬ 
litärisch sein können - jede Umkehr - 
! barkeit der Bewegung zu verhindern , 
dann steht manvor dem, was man einen 
Herrschaftszustand nennen kann.” 
(M.Foucault, Freiheit und Selbstsorge, 
Materialist 












Die Mobilisierung persönlicher Res¬ 
sourcen zur Auflösung verfestigter 
Machtverhältnisse setzt ein persönliches 
Interesse daran voraus. Was lapidar 
klingt, ist elementare Grundbedingung 
eines jeden noch so partiellen emanzi- 
pativen Ansatzes. Warum sollte jemand 
den gewohnten Regelkreis verlassen, 
der weitestgehend in der Lage ist die 
Bedürfnisse (die ja zum großen Teil 
innerhalb des Regelwerks erzeugt wer¬ 
den) zu befriedigen. Gerade die Mög¬ 
lichkeiten der Teilnahme an der Macht, 
und an den Privilegien einer mitteleu¬ 
ropäischen “Konsum -Kultur”, lassen 
die meisten Menschen eher ihr Heil in 
Anpassung an die Erfordernisse des 
mainstreams suchen und nicht in der 
Abkehr, im Ausscheren, in kritischer 
Distanz, geschweige denn in der Re¬ 
volte. 

Jedes Herrschaftssystem ist also gut 
beraten, innerhalb seines Einflußbe¬ 
reichs nur solche Bedürfnisse zuzulas¬ 
sen zu deren Befriedigung es in der La¬ 
ge ist - ja perfieder noch- Bedürfnisse 
zu erwecken zu deren Befriedigung es 
unabdingbar erscheint, die “Spielre¬ 
geln” des Systems exakt einzuhalten. 

Ein System, das Bedürfnisse weckt 
und gleichzeitig den Individuen die 
Recourcen und Macht in die Hand gibt, 
in scheinbar freier Selbstbestimmung 
zur Befriedigung dieser Bedürfnisse 
agieren zu können, bindet nicht nur den 
betreffenden Menschen ein, sondern 
verleiht ihm/ihr überdies noch das 
Gefühl selbstbestimmten Handelns und 
Denkens. (“Jeder ist seines Glückes 
Schmied”) 

“Wir können wahre und falsche Be¬ 
dürfnisse unterscheiden. Falsch sind 
diejenigen, die dem Individuum durch 
partikuläre gesellschaftliche Mächte, 
die an seiner Unterdrückung interessiert 
sind, auferlegt werden: diejenigen Be¬ 
dürfnisse, die harte Arbeit, Aggres¬ 
sivität, Elend und Ungerechtigkeit ver¬ 
ewigen. Ihre Befriedigung mag für das 
Individuumhöchst erfreulich sein, aber 
dieses Glück ist kein Zustand, der auf¬ 
rechterhalten und geschützt werden 
muß, wenn es dazu dient, die Ent¬ 
wicklung derjenigen Fähigkeit (seine 
eigene und die anderer) zu hemmen, die 
Krankheit des Ganzen zu erkennen und 
die Chancen zu ergreifen, diese Krank¬ 
heit zu heilen. Das Ergebnis ist dann 
Euphorie im Unglück" (H.Marcuse, 
1968, zit.n.M.Gronemeyer, Die Macht der 
Bedürfnisse, rowohltl988) 

[18] SF 1/9,6 


Es wäre ein Irrtum anzunehmen, daß 
in z.B. zentral-europäischen Systemen, 
neben den “falschen” Bedürfnissen 
nicht auch richtige (Grundbedürfnisse) 
befriedigt würden. Die Differenzie¬ 
rungshoheit liegt jedoch in der Regel 
beim System- der einzelne Mensch hat 
kaum die Möglichkeit aus der Zirku¬ 
lation und Eingebundenheit heraus¬ 
zutreten und zwischen künstlichen und 
Grundbedürfnissen zu unterscheiden; 
Auch kann die Befriedigung der Grund¬ 
bedürfnisse (hier) als ein Privileg be¬ 
trachtet werden, welches an den Gren¬ 
zen der E.U. endet und das entsprechend 
gegen Außenstehende verteidigt wird, 
obwohl es gerade die Universalität ist, 
die Grundbedürfnisse definiert und die 
Befriedigung derselben allen Menschen 
zugestanden werden muß (sei es die 
Stillung von Hunger oder Wohnraum, 
um nur zwei zu nennen). Das Wecken 
von Bedürfnissen und die Möglich¬ 
keiten ihrer Befriedigung sind Regu- 
lativeder Einbindung und Ausgrenzung, 
schaffen Privilegien und das Bestreben 
diese zu erhalten, sind aber ebenso im 
Umkehrschluß möglicher Ausgangs¬ 
punkt des Aufbegehrens gegen dieje¬ 
nigen, die die Befriedigung versagen. 

“Bedürfnisse sind auch aus der Pers¬ 
pektive der Macht zwiespälüg, ihrer 
Ausbreitung und Vervollkommnung 
förderlich, aber gleichzeitig eine ge¬ 
fährliche Keimzelle der Rebellion gegen 

Unterdrückung. Die Macht muß das 
waghalsige Kunststück riskieren, die 
Begehrlichkeit gleichzeitig zu reizen 
und mit äußerster Wachsamkeit im 
Zaum zu halten, "(ebenda) 

Bedürfnisse können sich somit in ihrer 
Ambivalenz sowohl herrschaftsstabili¬ 
sierend als auch gefährdent auswirken, 
können unter bestimmten Umständen 
zum Ausgangspunkt eines emanzipa- 
tiven Prozesses werden. 

Auf den/die Einzelne/n bezogen, ist 
die erste Bedingung für Abweichung 
im Sinne einer Loslösung von der Regel/ 
Norm, das Entstehen einer inneren Di¬ 
vergenz - zwischen einer “subjektiven 
Ich-Instanz” und einem System, daß 
nicht in der Lage, oder Willens ist, Be¬ 
dürfnisse innerhalb seines Regelwerks 
der “objektiven Normierung” zu be¬ 
friedigen. 

Bezüglich eines “Privilegien- Sys¬ 
tems”, hat jedoch ein etwaiges Auf¬ 
brechen an der Oberfläche von an¬ 
sonsten tiefgreifenden Übereinstim¬ 
mungen noch keine moralisch/ethische 


Qualität, die sich von der der Norm 
wesentlich unterscheidet. Unmut in der 
Bevölkerung über sozial- ökonomische 
Verschärfungen ist in diesem Sinne 
beileibe kein Grund, automatisch i n 
* ‘sozial-revolutionäres Frohlocken” aus- 
zubrechen. I 

Verärgerung über die potenzielle Ge¬ 
fährdung der Privilegien schafft mög¬ 
licherweise eine gewisse Divergenz, die 
sich jedoch als emanzipierendes Mo¬ 
ment schnell erschöpft, namentlich 

dann, wenn die Infragestellung dcrrest- 

lichen Privilegien droht Konkret heiß! 
dies, daß z.B. der Arbeitskampf 
innerhalb Deutschlands immer auch 
Besitzstandswahrung bedeutet, die in 
nationalen Werten “denkt” und sich im 
schlimmsten Fall einen Dreck darum 
schert, daß die für sich in Anspruch ge¬ 
nommene Befriedigung der Bedürf¬ 
nisse, auf den internationalen Rahmen 
übertragen, völlig andere Konsequen¬ 
zen erfordern könnte. Dieemanzipative 
Potenz einer “inneren Abweichung’ 
b.z.w. “Interessensdivergenz” gegen¬ 
über dem System, ist immer von der 
jeweiligenPosition des Subjekts inner¬ 
halb einer Herrschaftsbeziehung ab¬ 
hängig. Interessensdi vergens hat inner¬ 
halb einer Privilegiengesellschaft wie 
der unseren, eine andere Bedeutung und 
Auswirkung als in Systemen “klassi¬ 
scher Hierarchie”. 

Jede Phase eines emanzipativen Pro¬ 
zesses- sei die erste, die der partiellen 
Distanz gegenüber dem System oder 
die zweite, die eine graduelle Verselb¬ 
ständigung und Eigendynamik charak¬ 
terisiert- bestimmt sich zu jederzeit aus 
der Wechselbeziehung der persönlichen 
Position des Subjekts (Frau, Mann, 
Hautfarbe, Klasse etc.) und der daraus 
erwachsenden Motivation (mentale 
Verfassung, Mut, Angst etc.) - und den 
objektiven Bedingungen des (Herr- 

schafts)Systems, seiner Flexibilität und 

Integrationsfähigkeit ebenso wie die 
Möglichkeitder Ausgrenzung, des Ver¬ 
schlußes und der Zerstörung. 


(wird fortgesetzt) 








die Enge zu treiben und gegeneinander 
auszuspielen. 

Anhand der Situation von Andrea 
war für unsere Diskussion innerhalb 
des Wohnprojektes klar, daß der Raum 
zwischen Zeuge/Zeugin und Beschul¬ 


ebenfalls überden BGH. Besuch dürfen 
sie alle 14 Tage für eine halbe Stunde 
bekommen, die Mutter des Kindes kann 
zusätzlich für eineinhalb Stunden alle 
14 Tage ihr Kind sehen. Ansonsten 
unterliegen sieden normalen Vollzugs¬ 
bedingungen. 

Den Mitbewohnerinnen werden bis¬ 
her die Besuchsanträge abgelehnt, mit 
der Begründung, daß die Aussagever¬ 
weigerung eine gemeinsame Entschei¬ 
dungaller Bewohnerinnen des Projektes 
gewesen sei. Außerdem hätten die Be¬ 
wohnerinnen die Vorgeladenen zum 


Neues zu den Verfahren 
und 

Zeuginnenvorladungen 
der Bewohnerinnen der 
Fritzlarer Straße/ Frankfurt 

Anmerkung der Redaktion: 

Aufgrund des Besitzerwechsels eines 
Motorrades, das leider ausgerechnet dem 
^ Q d Kleinen auslösendem Spitzel Klaus 
Steinmetz gehörte und in den Besitz einer 
Bewohnerin eines Hauses in der Fritzlarer 
Straße (Frankfurt) übergangen ist, wurden 
die Bewohnerinnen zum einen als " Zeugen " 
v °rgeladen und zum anderen Objekt mehr¬ 
facher Hausdurchsuchungen, (siehe SF 41 
95) Bei den Vorladungen verweigerten sie 
die Aussagen . 


Ende November 1995 erreichen uns 
6 neue Vorladungen zum Bundesge¬ 
richtshof. Am 12. und 14. Dezember 95 
verhängte der Ermittlungsrichter am 
BGH, Beyer, gegen vier unserer Mitbe¬ 
wohnerinnen jeweils 5 Monate Beuge¬ 
haft und Ordnungsgelder. Der fünfte 
bezog sich auf sein Aussageverwei- 
gerungsrecht nach § 52 (Verlobung) 
und der sechste Geladene wurde zu 
1.000 ,- DM Ordnungsgeld verurteilt 
(er ist Vater eines eineinhalbjährigen 
Kindes, die Mutter wurde am gleichen 
Tag zu 5 Monaten Beugehaft verurteilt). 

Conny, Jens, Nik und Petra sind jetzt 
für 5 Monate im Knast, weil sie die 
Aussagen in einem Verfahren gegen 
ihre Mitbewohnerin Andrea verwei¬ 
gerten. Der Terror der Staatsschützer 
hört aber noch lange nicht auf. Der 3. 
Hausdurchsuchung folgte die vierte, und 
Anfang Dezember 95 die fünfte Haus¬ 
durchsuchung. Das BKA durchwühlte 
auf mündliche Anordnung des Bun¬ 
desanwaltes Griesbaum schon wieder 
alle Wohnungen des Projektes. Ein 
neues, mittlerweile das dritte, Ermitt¬ 
lungsverfahren nach §129a ist eröffnet 
worden. Es richtet sich gegen unsere 
Mitbewohnerin Andrea wegen Mit¬ 
gliedschaft in und unseren Mitbewohner 
Sven, wegen Unterstützung einer terro¬ 
ristischen Vereinigung. 

Beugehaft und 
Aussageverweigerung 

Die Bundesanwaltschaft und der Bun¬ 
desgerichtshof sind für uns keine 
neutrale Institutionen, sondern poli¬ 
tische Verfolgungsbehörden. Ihr Ziel 


digteR äußerst gering ist. Der Tenor der 
Beschlüsse und Begründungen von 
B AW und BGH machte ebenfalls keinen 
Unterschied in diesem Sinne. Auch der 
angeblich nichtvorhandene Anfangs¬ 
verdacht gegen Zeuginnen ist bedeu¬ 
tungslos, denn alle Bewohnerinnen des 
Projektes werden als linksextrem ein¬ 
gestuft und ihnen wird potentiell zuge¬ 
traut, unterstützend tätig geworden zu 
sein oder noch zu werden. 

Mit diesem Hintergrund haben 5 
Vorgeladene sich zunächst auf den §55 
(mögliche Selbstbelastung) berufen. Es 
war von vornherein klar, daß dies nur 
einen Sinn macht, wenn dieser Para¬ 
graph auf den gesamten Komplex zu¬ 
gelassen würde und nicht nur auf 
Einzelfragen. 

Der BGH hat die Berufung auf den 
§55 abgelehnt, unter anderem mit der 
Begründung, daß es sich hierbei nur 
um ein vorgeschobenes Scheinargument 
handele. Die Bewohnerinnen des 
Wohnprojektes hätten mehrfach 
öffentlich dargelegt, daß sie unter keinen 
Umständen bereit seien irgendwelche 
Angaben zur Sache zu machen. Da den 
“Zeuginnen” der §55 nicht anerkannt 
wurde, verweigerten sie die Aussage, 
was dazu führte, daß nun 4 davon in 
Beugehaft sitzen. 

zu den Haftbedingungen: 

Conny, Jens, Nik und Petra sitzen in 
vier verschiedenen Knästen (in der 
Reihenfolge: Bühl, Rastatt, Heimsheim 
und Schwäbisch Gemünd). Die gesamte 
Post unterliegt der Zensur durch den 
BGH, ebenso die Zeitschriften und Ta- 


BGH begleitet um auf diese Weise psy¬ 
chische Unterstützung und Solidarität 
zu versichern und die Vorgeladenen in 
ihrer Verweigerungshaltung zu bestär¬ 
ken. Somit sei zu befürchten, daß die 
Besuchenden den geplanten Besuch zur 
Fortsetzung dieses Verhaltens mi߬ 
brauchen würden. Dies sei mit dem 
Zweck der Erzwingungshaft nicht zu 
vereinbaren. Dieses Besuchs verbot gilt 
auch für Personen, die nach Angaben 
des BGH an der Solidaritätskundgebung 
vor dem BGH teilgenommen haben. 

Seit Anfang Januar hat die Zustän¬ 
digkeit innerhalb des BGH sich geän¬ 
dert. 

Es ist jetzt ein neuer Ermittlungs¬ 
richter zuständig (Herr Woist), Beyer 
hat das Verfahren abgegeben. Außer¬ 
dem sind nunmehr die Knäste direkt für 
die Postzensur und die Besuchsanträge 
zuständig. Also gehen die Briefe, Pakete 
und Besuchsanträge nicht mehr über 
den BGH. Wir gehen jedoch davon aus, 
daß entsprechende Anweisungen an die 
Knäste erteilt wurden. Nichtsdestotrotz 
haben sich auch die Haftbedingungen 
für die Vier verändert. Inzwischen liegt 
eine Besuchsgenehmigung für eine 
Person aus dem Wohnprojekt vor, wir 
wissen allerdings noch nicht genau, wie 
die neuen Bedingungen für die vier sich 
insgesamt noch entwickeln werden. 

Stand: 18.Januar 1996 
Spendenkonto, weils eben teuer ist: 
(E.Bauer) Stichwort “Fritze” BFG Ffm 
BockenheimBLZ: 50010111 Kontonr: 
355 785 39 01 

weitere Infos über : Infoladen c/o Cafe 
EXZESS Leipzigerstraße 91 60487 
Frankfurt/ Main 



i 


i 

I 



i 

i 

i 


ist es, Menschen zu kriminalisieren, in geszeitungen. Besuchsanträge laufen 


Unterstützerinnen der 
Fritze 


Foto: Sabine Streich 












D er Widerstand gegen 
Atomenergie hat was 
von „Schnee von ge¬ 
stern“. 

Seit Harrisburg und Tscher¬ 
nobyl glaubt kaum jemand 
mehr ernsthaft, daß sich die 
Atommafia noch einmal breit 
machen könnte. In Deutsch¬ 
land wurde kein neues Akw 
mehr in Betrieb genommen. 
Seit 1988 wurden Investitio¬ 
nen von über 15 Milliarden 
Mark für kerntechnische 
Anlagen vergeigt, u. a. der 
Schnelle Brüter in Kalkar 
und die Wiederaufbereitungs¬ 
anlage in Wackersdorf. 
Weitere 11 Milliarden Mark 
sind derzeit in Kernenergie¬ 
anlagen gebunden, deren Fer¬ 
tigstellung bzw. Nutzung 
wegen gerichtlicher Ausein¬ 
andersetzungen oder aus¬ 
stiegsorientiertem Gesetzes¬ 


vollzugs einzelner Landes¬ 
regierungen gefährdet sind. 
(Handelsblatt 7.9.95) 

Der „Spiegel” schreibt seit 
Jahren den Ausstiegswillen 
der Energieversorgungsunter¬ 
nehmen (EVU’s) herbei und 
doch droht uns möglicherwei¬ 
se ein schlechtes Erwachen: 
Hardliner aus Politik und 
Wirtschaft bereiten ein Come¬ 
back der Atomenergie vor. 

Ob damit die Erfolge aus 
20 Jahren Anti-Atom-Bewe- 
gung verspielt sind, liegt mit 
an unserer Bereitschaft, ihre 
Schweinereien wieder auf¬ 
merksamer zu verfolgen. 

Eine kleine Hilfe hierzu soll 
dieser Bericht sein, in dem 
wir Informationen aus den 
letzten 2 Jahren zusammen¬ 
fassen und versuchen, Ten- 
denzen deutlich zu machen. 

Auf gehts. 


Atomkraftwerke - 
eine Bestandsaufnahme 


Zur Zeit sind weltweit 432 Akws 
Betrieb. An der Atom-Spitze findet 
sich weiterhin die USA mit 109 
lern am Netz, auch wenn dort seit 
Harrisburg {1979) nur ein neuer Re¬ 
aktor gebaut wird. Den zweiten Platz 
belegt Frankreich mit 49 Reaktoren, 
es folgen Großbritannien mit 34, Rnß" 
land mit 29, Kanada mit 22, Deutsch¬ 
land mit 21, die Ukraine mit 15 und 
Schweden mit 12 Atommeilern. (An¬ 
gaben taz 9.1.95) Gegenwärtig erzeu¬ 
gen Atommeiler weltweit knapp ^ 
Prozent der gesamten Elektrizität- 
Die Europäische Union ist davon def 
größte Kernenergieproduzent. Si e 
deckt 34% ihres Strombedarfs durch 
Atomkraft. 


[20] SF 1/96 















jLili LHU1UL 


I 


Die Berichte in den Tageszeitungen 
beschreiben zwei Tendenzen, Flaute 
im Westen, Boom im Osten. Die FR 
Z -B. titelte im letzten Jahr: „Im We¬ 
sten hat die Atomkraft ihren Zenit er¬ 
reicht” - „Kaum neue Meiler ; aber im¬ 
mer mehr Stillegungen / Ausbaupläne 
in Ost-Europa und Ost-Asien ” Der 
Artikel beschreibt die Krise der Reak¬ 
torhersteller im Westen: In den ver¬ 


gangenen Jahren ist der Anteil der 
Kernenergie zurückgegangen und der 
Ausbau des Atomsektors wurde in al¬ 
ten europäischen Ländern mit Aus¬ 
nahme von Frankreich sogar ganz 
eingestellt. Als Hauptprobleme wer¬ 
den genannt: mangelnde Akzeptanz 
in der Bevölkerung, die ungelöste 
Atommüllentsorgung und rapide Ko¬ 
sten für den Abbruch alter Reaktoren. 
« Weltweit werden derzeit nur rund 40 
Kernkraftwerke (...) errichtet. Paral¬ 
lel dazu nimmt die Zahl der stillgeleg¬ 
ten Reaktoren zu. Insgesamt wurden 
bislang 81 Kernreaktoren (...) stillge- 
legt, die durchschnittlich weniger als 
17 Jahre in Betrieb waren. Der Ab¬ 
bruch eines alten Reaktors wie in 
Greifswald z. B. kostet „mindestens 
sechs Milliarden Mark”. Der Artikel 
schließt mit der Einschätzung: „Zu¬ 
mindest in den Indu¬ 
strieländern setzt sich 
die Erkenntnis durch , 
daß die Kernenergie 
im Vergleich zu ande¬ 
ren Energieträgern 
nicht mehr konkur¬ 
renzfähig ist. Sowohl 
moderne und effiziente 
Kohlekraftwerke als 
auch Gaskraftwerke 


sind wesentlich kostengünstiger als 
Kernkraftwerke. ” 

Diese Einschätzung gilt vielleicht 
heute für die westlichen Industrielän¬ 
dern, allein, im östlichen oder ostasia¬ 
tischen Teil der Erde sieht es anders 
aus (Angaben wiederum FR): „Fast 
die Hälfte aller Reaktoren , die zur 
Zeit geplant und gebaut werden , sol¬ 
len dort stehen”. Japan baut bei¬ 


spielsweise zur Zeit sechs Anlagen, 
ebensoviele sind es in Südkorea, Chi¬ 
na hat angekündigt, sechs neue Reak¬ 
toren zu errichten, Thailand ebenso. 

In Indonesien will der amerikanische 
Konzern Westinghouse von 1995 an 
zwölf neue Atomreaktoren errichten. 
Staaten des ehemaligen Ostblocks 
(Rußland, Ukraine) widersetzen sich 
den Forderungen westlicher Länder, 
zwölf ältere und als unsicher geltende 
AKWs vom Netz zu nehmen. Die 
ukrainische Regierung widerrief so¬ 
gar die Zusage, die beiden noch im 
Betrieb befindlichen Blöcke in 
Tschernobyl abzuschalten. Beide 
Länder kündigten an, ihre auf Eis lie¬ 
genden Konstruktionsprogramme 
wieder aufzunehmen. Das russische 
Ministerium für Atomenergie plant, 
den Anteil der Kernenergie an der 


Stromerzeugung von derzeit zwölf auf 
30 Prozent zu steigern.' 

Große Hoffnungen setzt die Atomlob¬ 
by auf den boomenden Markt in Chi¬ 
na, eines der Länder mit dem stärk¬ 
sten Wirtschaftswachstum. Bis zum 
Jahr 2015 erwartet die chinesische 
Regierung eine Verdreifachung des 
Strombedarfs auf 2.480 Terawatt- 
stunden (eine Terrawattstunde ent¬ 
spricht 1000 Milliarden' Kilowatt¬ 
stunden!). Drei Milliarden Tonnen 
Kohle müßten dafür verbrannt wer¬ 
den. Aus „Umweltschutzgründen” 
will China darum auf die. Atomkraft 
setzen, (taz, 8. 9. 94) 

Atomindustrie in Wartestellung 

Zurück ins Inland. Auf den ersten 
Blick sieht es für die Atombetreiber 
nicht gut aus. 

Hohe fehlgeschlagene Investitionsko¬ 
sten (Hochtemperaturreaktor, WAA 
Wackersdorf, Schneller Brüter); kein 
kalkulierbarer Entsorgungsnachweis; 
hohe Sicherheitsanf orderungen an 
Atommeiler; keine Akzeptanz in der 
Bevölkerung; kein Bedarf für neue 
Atommeiler wegen Stromüb erkapa- 
zitäten; (noch) kein akzeptabler kon¬ 
kurrenzfähiger Reaktortyp... 

Die Atomgemeinde hält sich von da¬ 
her zurück und auf der öffentlichen 
Bühne wird mit vertauschten Rollen 
gespielt: statt der EVU’s prescht die 
atomgeile Bundesregierung vor. Sie 
drängt die EVU’s endlich die konkrete 
Option (Absicht) zuzusagen - auf den 
Bau eines neuen Reaktors an einem 
bestimmten Standort in fünf Jahren. 
Gemeint ist ein von Siemens und der 
französischen Firma Framatone gera¬ 
de in der Entwicklung stehender Re¬ 
aktortyp EPR, der etwa ab Jahr 2005 
weltweit angeboten werden soll. 

Ein roter Teppich für die Stromgiganten 

Die Strommanager der EVUs „zie¬ 
ren” sich und fordern günstigere Rah¬ 
menbedingungen: 




SF 1/96 [21] 

[ 


| 


i 


! 

i 


i 

i 

■ i 

! 

i 

j 

j 

I 

i 

i 


j! 


i 


| 

| 

| 


i 


{ 

i 

! 

| 


I 

i 

I 

i 


ii 















„Ob sich die Branche für ein Atom¬ 
kraftwerk entscheidet oder nicht ; ma¬ 
chen Stromvorständler wie Ulrich 
Hartmann (Veba) oder Dietmar Kuhnt 
(RWE) von drei Bedingungen abhän- 

Qig: 

- Es sollte breite gesellschaftliche 
Übereinstimmung herrschen, vor 
allem: keine „Obstruktionspolitik” 
rotgrüner Landesregierungen ge¬ 
gen neue Projekte. 

~ Es muß ein Bedarf für neue 
Strommeiler vorhanden sein. 

~ Auch unter den teuren Sicherheits¬ 
anforderungen des geänderten 
Atomgesetzes müssen sich die neu¬ 
en Reaktoren im Verhältnis zu 
Kohlekraftwerken rechnen.” (Spie¬ 
gel 29. 5. 95) 

Zum Interesse der EVU’s ergänzend 
die Aussagen desselben RWE-Vor- 
ständlers Kuhnt im Handelsblatt vom 
7. 9. 95: 

„Kuhnt ist davon überzeugt, daß 
deutsche Reaktoren verantwortungs¬ 
voll genutzt werden und die Kern- 
kraß eine ' Zukunßstechnologie* mit 
Vorsorgefunktion für den Positions¬ 
standort Deutschland darstellt. Und 
darüber hinaus bleibt für den RWE- 
Chef maßgeblich: 1 Unsere Kernkraft¬ 
werke erfüllen weltweit vorbildliche 
Sicherheitsstandards. Wer sich unter 
nationalen Ge¬ 
sichtspunkten 
von der Kernen¬ 
ergie verabschie¬ 
den will, begibt 
sich zugleich der 
Möglichkeiten 
zur positiven Be¬ 
einflussung der 
zukünftigen Be- 
einflussung der zukünftigen Sicher¬ 
heitsanforderungen in der Kernener¬ 
gie oder aktiven Hilfe bei osteuropäi¬ 
schen Anlagen.’ ‘In der deutschen 
kerntechnischen Entwicklung . dürfe 
kein Fadenriß entstehen. Auch wenn 
kurzfristig kein Bedarf für neue Anla¬ 
gen existiere, müsse weiter geforscht 
werden. Im Jahr 2005 sei zu untersu¬ 
chen, inwieweit der neu konzipierte 
deutsch-französische Gemeinschafts¬ 
reaktor unter wirtschaftlichen und si¬ 
cherheitstechnischen Anforderungen 
für die Stromversorgung hinzugezo¬ 
gen werden solle. Das Thema Nummer 
eins in der energiepolitischen Kon¬ 
sensfindung sei jetzt, dafür zu sorgen, 
daß technische Entsorgungsmöglich¬ 


keiten politisch auch 
wahrgenommen werden 
könnten. Die Standort¬ 
prüfung eines Endla¬ 
gers in Gorleben sei so 
lange weiterzuverfol¬ 
gen, wie keine gleich¬ 
wertige Option staatli- 
cherseits für Prüfungen 
freigegeben werde. Im 
übrigen wiesen alle bis¬ 
herigen Resultate dar¬ 
auf hin, daß Gorleben 
den sicherheitstechni¬ 
schen Ansprüchen 
genügen könne, erklär¬ 
te Kuhnt. 

Ein Thema für energie¬ 
politische Weichenstel¬ 
lungen dürfe gleichfalls 
nicht kleingeschrieben 
werden, nämlich die 
Voraussetzungen für ei¬ 
nen politisch ungestör¬ 
ten Betrieb der Kern¬ 
kraftwerke endlich zu 
schaffen.” 

Hier wird es interes¬ 
sant, weil die Hardliner 
in der Bundesregierung 
seit einigen Monaten 
dabei sind, die geforderten „energie¬ 
politischen Weichenstellungen” zu 
setzen. 


„Nach Paragraph 7 des neuen Atom¬ 
gesetzes können Reaktoren nur noch 
genehmigt werden, wenn sich die Fol¬ 
gen einer Kernschmelz-Katastrophe 
wie Tschernobyl durch die neuartige 
Konstruktion auf die Atomanlage be¬ 
grenzen lassen. Die Anlage müsse so 
ausgelegt sein, hatten Töpfer und 
Schröder festgelegt, daß ein Kem- 
schmelzunfall nur einmal in einer 
Million Jahren passieren dürfe und 
daß, wenn er doch eintritt, 99 von 
100 Kernschmelzen ohne Opfer be¬ 
herrschbar sein müßten. Schon da¬ 
mals bemerkte Adolf Hüttl, Siemens- 
Vorstandsmitglied für Kernkraftwer¬ 
ke: 1 Dann bauen wir nicht.* ” 

(Spiegel 10. 4. 95) 


Dazu am gleichen Tag in der Frankf 11 
ter Rundschau: „Merkel dreht an 
AKW-Standards - Umweltminis t^ 11 
will Vorgaben Töpfers unterbieten - 
„Im Umweltministerium gibt es (Jb cT 

legungen die Sicherheitsstandards j^ 

künftige Atomkraftwerke neu zu re 
geln. (...) Diese neuen Eckwerte u)ii r 
den (...) niedriger liegen...” 

Entsorgungsnachweis „entsorgen” 

Seit dem Aus für die deutsche 
war La Hague - neben der Anlage i** 1 
britischen Sellafield - die einzig 
Möglichkeit für die deutsche Atom 
Wirtschaft, den Nachweis der Entso* 
gungsvorsorge zu erbringen. Ohne ih n 
hätten alle Atommeiler abgeschaltet 
werden müssen. Schon seit langem i st 
der Zwang einen „Nachweis für die 
EntsorgungsVorsorge” des anf allem 
den Atommülls zu erbringen für die 
Atombetreiber ein lästiger Klotz am 
Bein. Jede Variante, sich dieses Prm 
blems zu entledigen, hat einen Pferde' 
fuß. Deshalb tanzen die EVU’s auf 
verschiedenen Hochzeiten: 

Direkte Enttagerung 

Seit Mai 1994 wurde mit dem söge' 
nannten Artikelgesetz auch die direk- 



Wie der Weg in 
eine neue Atom¬ 
reaktorgeneration 
gebahnt wird 

Sicherheits¬ 
anforderungen 
werden aufgeweicht 


S.F 1/96 





te Entsorgung als Entsorgungsnach¬ 
weis anerkannt. Seitdem stellt sich 
für die Stromunternehmen die Frage, 
welchen Weg sie in Zukunft beschrei¬ 
fen sollen: Wiederaufbereitung oder 
Endlagerung? Rein wirtschaftlich ist 
die Sache klar: Die direkte Endlage- 
ri *ng ist viel billiger. (2000 DM pro Ki¬ 
logramm Kernbrennstoff) Doch dafür 
fehlt noch das Endlager. In Gorleben 
wird zwar der Salzstock weiter „er¬ 
kundet”, aber die Rechte an dem 
Salzstock liegen beim Anti-AKW- 
Grafen Bernstorff. Wenn das vom 
Sund eingeleitete Enteignungsverfah- 
r en erfolglos bleibt, droht diesem Pro¬ 
jekt spätestens 1998 das Aus. Damit 
stände auch der Entsorgungsnach¬ 
weis wieder auf wackligen Füßen. 
(Angaben „Die Woche” 4. 8. 95) 


Wiederaufarbeitung in La Hague 

E>ie andere Schiene wäre bei der Wie¬ 
deraufarbeitung in La Hague zu blei¬ 
ben. Diese ist in zwei Kontrakten 
festgehalten (Alt- und Neuverträge). 
Eas sind Verpflichtungen über das 
Jahr 2000 hinaus mit erheblichen Ab¬ 
hängigkeiten: kündbar nur unter 
ziemlich kostenträchtigen Bedingun¬ 
gen (1,2 Mrd. DM). Im letzten Jahr lie¬ 
ferten sich die deutschen Atombetrei¬ 
ber einen Verhandlungspoker mit der 



französischen Cogema (der Betreibe¬ 
rin von La Hague). Sie wollten aus 
den finanziell für sie sehr ungünsti¬ 
gen Altverträgen raus, sich anderer¬ 
seits jedoch den Entsorgungsweg über 
La Hague offenhalten. Das der Ca- 
stor-Transport gerade in diese Ver¬ 
handlungsphase fiel, ist kein Zufall - 
stärkte es doch erheblich die Ver¬ 
handlungsposition der deutschen 
Atom-Betreiber, die damit zeigen 
konnten, daß sie zur Not ihren Ent- 


letztlich geeinigt haben, ist uns nicht 
bekannt. „Die Woche” vom 4. 8. 95 
kommt zu folgender Einschätzung: 
Die Franzosen andererseits erweisen 


sie jetzt selbst die langfristige Zwi¬ 
schenlagerung ohne Wiederaußerei- 
tung an, samt späteren Rücktransport 
der Brennelemente in endlagergerech¬ 
ter Verpackung. Da die reine Lage¬ 
rung ausländischen Strahlenmülls 
aber nach französischem Abfallrecht 
verboten ist, verbindet Cogema diesen 
Vorschlag mit (dem Trick) der Pro- 
forma-Option zur Wiederaufarbei¬ 
tung. 

Das läßt die deutschen Atom-Mana¬ 
ger aufhorchen. Denn mit dieser Vari¬ 
ante könnten mehrere atompolitische 
Fliegen mit einer Klappe geschlagen 
werden: Die protestträchtigen Castor- 
Transporte nach Gorleben ließen sich 
eine Zeitlang umgehen , der Bau wei¬ 
terer Zwischenlager in Deutschland 
wäre vom Tisch und der Ausstieg aus 
der Plutoniumwirtschaft ohne politi¬ 
sche Risiken machbar. Darum neigen 
die Stromkonzerne derzeit dazu, sich 


auch in Zukunft den Entsorgung sw eg 
über La Hague offenzuhalten. Der 
Verhandlungspoker mit der Cogema 
dreht sich im wesentlichen nur noch 
um den Preis. ” 

Gesetzliche Abschwächung des 
Entsorgungszwangs 

Die Bundesregierung dreht derweil an 
einer anderen Schraube. 

„In einem internen Papier mit dem 
Titel Position zur weiteren Entwick¬ 
lung der friedlichen Nutzung der 


einem Entsorgungskonsens . abzukop- 
'peln.” (FR 19. 4. 95) Im Klartext geht 
es in diesem Strategiepapier um ver¬ 
schiedene Varianten, wie Atommüll 
weiter produziert werden darf, ohne 
den lästigen Nachweis erbringen zu 
müssen, daß er letztendlich auch si¬ 
cher entsorgt werden kann. Im Papier 
heißt es weiter: Als Fortschritt be¬ 
zeichnen sie, „wenn es im Konsenswe¬ 
ge gelänge , die Entsorgungsfrage poli¬ 
tisch vom Weiterbetrieb der Kern¬ 
kraftwerke abzukoppeln, also zu ei¬ 
nem Entsorgungskonsens auch dann 
zu kommen , wenn es keinen Konsens 
Über die weitere Kernenergienutzung 
gibt”. 

„Kompromisse halten die Experten 
bei der Zwischenlagerung der hoch¬ 
giftigen abgebrannten Brennelemente 
für möglich. Für die laut dem Atom¬ 
gesetz jetzt mögliche direkte Endlage¬ 
rung sei ohnehin eine „Abklingzeit” 
von etwa 40 Jahren zweckmäßig. 
Überdies habe die langfristige Zwi¬ 
schenlagerung den Vorteil, daß die 
Entscheidung über Endlagerung oder 
Wiederaufarbeitung erst später getrof¬ 
fen werden müsse. Die Erkundung des 
Salzstocks Gorleben als mögliches 
Atommüllendlager will das Bundes¬ 
umweltministerium nicht auf geben. ” 

(...) „Um der SPD und insbesondere 
Niedersachsen bei dem Wunsch nach 
einer gerechteren Verteilung der La¬ 
sten entgegenzukommen, könne eine 
Regionalisierung der Zwischenlage¬ 
rung angeboten werden, so daß das 
Zwischenlager Ahaus für den west¬ 
deutschen Raum, Gorleben für Nord¬ 
deutschland, Greifswald für Ost¬ 
deutschland und ein noch zu errich¬ 
tendes Zwischenlager in Süddeutsch¬ 
land zur Verfügung stünden.” 

SF 1/96 [23] 



sorgungsnachweis auch mit dem Poli¬ 
zeiknüppel durchgesetzt bekommen. 

Worauf sich Deutsche und Franzosen Kernenergie’ schlagen die Experten 

vor, die Diskussion über die weitere 
Nutzung von Atomkraftwerken von 



















ben genannt, sollte das westdeutsche spricht (wohl eher, weil eine Standort- 
Endlager ausfallen.” (Angaben wie- unabhängige Entscheidung quasi ei- 
derum Spiegel 1. 1. 96) 


SPD-Schröder (Niedersachsen) wür¬ 
de bei dieser Variante mitspielen: 
„Künftig soll die Entsorgungspflicht 
der EVU bereits erfüllt sein, so Schrö¬ 
der, ‘wenn sie eine ordnungsgemäße 
vorausschauend sichere Zwischenla¬ 
gerung des Atommülls betreiben / ” 
(Spiegel vom 29. 5. 95) 


Das neue „Mekka“ für die Atomindustrie: 
Atomland Ost 

Die Essener Gesellschaft für Nuklear- 
Service (GNS) „errichtete bereits das 
„Zwischenlager Nord”, dicht am 
Kraftwerkskomplex Greifswald gele¬ 
gen. Die Hallen sollen im Endausbau 
200 000 Kubikmeter Fassungsvermö¬ 
gen haben - genug, um den gesamten 
Atommüll der 19 deutschen Meiler 
aufnehmen zu können. Noch steht die¬ 
ses ostdeutsche Gorleben leer, doch 
schon Anfang dieses Jahres soll laut 
Genehmigungsantrag der erste Atom¬ 
schrott anrollen.” (Spiegel 1. 1. 96) 

Alternative Endlagerstätten 

Auch für den Fall, daß die Wendlän¬ 
der sich weiter wacker wehren, sorgt 
die Bundesregierung bereits vor: 
„Umweltministerin Merkel hat von 
der Bundesanstalt für Geowissen¬ 
schaften und Rohstoffe bereits alle po¬ 
tentiellen Gest einsformationen für 
Atommüll-Lager erkunden lassen - 
vom Erzgebirge bis zum norddeut¬ 
schen Elbufer.” (...) Im Einzelnen: 
„Als neue Endlagerstätte erkunden 
die Behörden derzeit den brandenbur- 
gischen Teil des Salzstocks von Gorle¬ 
ben und das benachbarte Gülze-Sum¬ 
te. Auch das Fichtelgebirge und die- 
Halle-Wittenberger Scholle gelten als 
untersuchungswürdig. Das Bundes¬ 
umweltministerium hat schon im 
sachsen-anhaltinischen Waddekath 
einen Salzstock als Ersatz für Gorle- 


Ungestörter Weiterbetrieb 
bestehender Meiler 

Erinnert ihr euch noch an die Zeit, als 
die SPD alle Atomkraftwerke inner¬ 


halb von 10 Jahren stillegen wollte? 
Mittlerweile liest sich das so: Die 
Atomgemeinde „wollen die am Netz 
hängenden Atommeiler ungestört von 
rot-grün geführten Regierungen be¬ 
treiben, möglichst noch jahrelang. 
Dafür wären sie sogar bereit, über 
Restlaufzeiten zu verhandeln. Die 
Branche denkt an 40 Jahre, Schröder 
wäre bereit, 30 zuzugestehen.” 
(Spiegel 29. 5. 95) 

Option auf einen neuen Reaktor 

H s ren wir uns einmal Frau Merkel an: 
„Be. der Frage des Neubaus von 
Kernkraftwerken besteht heute kein 
konkreter Entscheidungsbedarf. Al¬ 
lerdings weiß jeder, daß die Forschung 
und Entwicklung kontinuierlich wei¬ 
tergeführt werden muß, damit in zehn 
Jahren eine konkrete Bauentschei¬ 
dung für einen neuen Reaktortyp ge¬ 
fällt werden kann. Dies schließt ein 
standortunabhängiges Genehmi¬ 
gungsverfahren ein, um sicherzustel¬ 
len, daß ein solch neuentwickelter Re¬ 
aktor auch den gesetzlich festge¬ 
schriebenen Sicherheitskriterien ent- 



Unterhöhlte Zufahrtsstraßen zum 
Zwischenlager Gorleben 


nem pauschalen Freibrief für diesen 
Reaktortyp gleichkäme. Das heißt, i st 
ein Reaktor erstmal genehmigt, falle 11 

weitere langwierige Einspruchs ver" 
fahren weg. d. Verf.) Deshalb ist heute 
mehr notwendig als lediglich die poh 
tische Entscheidung, Forschung un 
Entwicklung fortzuführen. Über R es * 
laufzeiten bestehender Kernkraftuier 
ke kann nur zum Zeitpunkt konkreter 
Bauentscheidungen gesprochen uiei 
den, ebenso über die Ausgestaltung 
der politischen Entscheidung■ Auch 
sollten uns die Exporterfolge d er 
Franzosen im südostasiatischen Rann 1 
und die Anstrengungen der Amerika 
ner in Osteuropa zu denken geben. In 
einigen Jahren wird der Erneuerung s 
prozeß der weltweit rund 400 Ke? n 
kraftwerke beginnen. Wir t sollte 
dann deutsche Technologie anbieten 
können, beispielsweise den gernein 
sam mit Frankreich entwickelten R u 
ropean Pressurized Water Reactor 
(EPR), der ein weltweit bisher uner 
reichtes Sicherheitsniveau , haben 
wird. ” 1 

(FR vom 19. 6. 95) 

Rührend, wie sich Frau Merkel für & e 
deutsche Industrie einsetzt; nlC ^ 
wahr? Aber schließlich geht es um di e 
Stellung der Deutschen Industrie b el 
einem gigantischen Investitionsvolu 
men für die Erneuerung der 40 
Kernkraftwerke... 

Die SPD- 
wie immer ein 
Wackelpudding 
Seit einiger Zeit la u 
fen zwischen Wertre 
tem aller Parteien» 

Gewerkschaften un 

Wirtschaftsbossen 

sogenannte „Ener¬ 
giekonsensgespräche“. Diese & e 
spräche sollen eine „breite ; gese 
schaftliche Übereinkunft“ über die 
zukünftige Energieversorgung 
Deutschland herstellen, also auc 
über die Frage zukünftiger Atom¬ 
kraftwerke, weil auch die Strönikon 
zeme ohne diese Zustimmung angeb 
lieh nicht neue AKW’s in Auftrag g e 

ben wollen. Die Energiekonsensge¬ 
spräche sind das letzte Mal im Mai 95 
noch an diesem Punkt - der Option 
auf einen neuen Reaktor — gescheitert- 
Allerdings knapp. Schröder hätte 
möglicherweise auch an diesem Punkt 




[24] SF 1/96 














2 ugestimmt, wäre er nicht von seinem 
Parteichef Scharping zurückgepfiffen 
w orden (schließlich besteht zuminde- 
stens formal noch der 1986 gefällte 
Ausstiegsbeschluß): „ SPD- Verhand¬ 
lungsführer Schröder hatte nach An¬ 
gaben des Nachrichtenmagazins Der 
Spiegel in einem Brief an SPD-Chef 
Rudolf Scharping mit seinem Ausstieg 
aus Ren Konsensgesprächen gedroht, 
sollte seine Partei die von ihm ange- 
botene Kompromißlinie nicht unter¬ 
stützen, nach der für die bestehenden 
Reaktoren im Atomgesetz Restlaufzei- 
ten festgeschrieben werden sollen und 
die SPD im Gegenzug einem stand- 
0r tunabhängigen Genehmigungsver¬ 
fahren für einen neuen deutsch-fran- 
z dsischen Reaktortyp zustimmen 
Küßte.” (FR 19. Juni 95) 

Aber wer traut schon der SPD? Aus¬ 
stieg. Ausstieg innerhalb von 10 Jah- 
ren - Ausstieg innerhalb von 30 Jah- 
ren * Genehmigungsverfahren für ei- 
Uen neuen Reaktor - ist doch alles das 
gleiche... 


Garching II 

In Garching bei München baut Sie- 
Kens für die TU München einen 
ueuen Forschungsreaktor. 

P>er Atommeiler soll ausschließlich 
frfrt hochangereichertem Uran be¬ 
trieben werden. Für welche „fried¬ 
lichen Zwecke” atombombenfähi¬ 
ges Uran in den Brennelementen ge¬ 
braucht wird, bleibt offen. Fakt ist, 
die BRD will das Uran auä Rußland 
kaufen. Dies wird aber nur mit Zu¬ 
stimmung der Euratom, der eu¬ 
ropäischen Atomgemeinschaft mög¬ 
lich sein. Dort haben die USA ein 
Wörtchen mitzureden. Seit 1992 
versucht jedoch die Bundesregie- 
r frfrg in Verhandlungen über eine 
Vertragsverlängerung von Euratom, 
das Mit spracherecht der USA zu 
beenden, dies sei „politisch und 
technisch nicht länger akzeptabel”, 
so der bundesdeutsche Verhand¬ 
lungsleiter Wilhelm Gmelin. Die 
Deutschen wollen ohne ausländi¬ 
sche Kontrolle mit waffenfähigem 
Uran forschen. Für eine deutsche 
Atombombe? 


Die Offensive beginnt 

Nachdem dieser Artikel bereits fertig 
war, erschien am 1. 1. 96 ein Bericht 
im „Spiegel”, der ein Abweichen von 
der bisher vorsichtigeren Linie an¬ 
deutet. Die Atommafia geht in die Of¬ 
fensive. 

„Wir wollen den Reaktor 
Der„EPR“undder„lter“ 

„Eine große Koalition aus Sozialde¬ 
mokraten und Bundesregierung will 
Ostdeutschland zu Europas führender 
Atomtechnologieregion aufrüsten: ein 
Fusionsreaktor soll nach Mecklen¬ 
burg-Vorpommern, schon in Kürze ge¬ 
hen dort das europaweit größte Zwi¬ 
schenlager für Atommüll in Betrieb, 
etliche Endlagerstätten werden er- 
kündet. ” 

Schwerins stellvertretender Minister- 
Präsident und SPD -Wirtschaftsmini¬ 
ster Harald Ringstorff und Reaktor¬ 
ministerin Merkel forcieren einen 
neuen Reaktortyp „Iter”. „Das Kürzel 
steht für Internationaler Thermonu¬ 
klearer Experimenteller Reaktor. An¬ 
ders als bei der Kernspaltung soll in 
dem hochmodernen Experimentier¬ 
kraftwerk Energie durch Kernver¬ 
schmelzung gewonnen werden. Für 
diesen Reaktor, dessen Funktionswei¬ 
se bereits in mehreren Pilotprojekten 
weltweit getestet wird, wollen 20 In¬ 
dustriestaaten zwölf Milliarden Mark 
bereitstellen. Im nächsten Jahrtau¬ 
send soll mit dem Bau begonnen wer¬ 
den - nur ist noch offen, wo. Um das 
Kraftwerk konkurrieren die Vereinig¬ 
ten Staaten, Japan, Rußland, und 
auch die EU ist derzeit auf Standort¬ 
suche. Deutschland ist dabei ein ‘lea- 
ding candidate > (Naturej” (...) „In der 
Tat kann die CDU/SPD-Koalition in 
Schwerin im internationalen Wettbe¬ 
werb ein DDR-Erbe nutzen: In Greifs¬ 
wald stehen bereits fünf konventionel¬ 
le Atom-Meiler sowjetischer Bauart ” 
(...) „Der Kraftwerkskomplex ist mit 
über 280 Hektar Fläche größer als die 
vier West-Meiler Brokdorf, Biblis, 
Stade und Philippsburg zusammen. 
Für den künftigen Fusionsreaktor, so 
wirbt das Land in einem Ministeri¬ 
umspapier, stünden schon Wasserka¬ 
nal, Kühltürme, Überwachungssyste¬ 
me, Zwischenlager* sowie eine ‘ gro߬ 
dimensionierte Feuerlöschanlage 9 be¬ 
reit. Selbst der Widerstand der Um¬ 
weltschützer scheint kalkulierbar. Der 
Iter-Experte Udo Janssen, langjähri¬ 


ger Sprecher des norddeutschen Ener¬ 
giekonzerns Preussen-Elektra und 
vorübergehend Berater des Schweri¬ 
ner Wirtschaftsministeriums, erfuhr 
bei einer Ortsbegehung von einem 
amtlichen Naturparkschützer: Die 
Landschaft ist hier schon so versaut, 
da könnt ihr den hinbauen. Mit uns 
geht das* “. 

(Zitate alle aus Spiegel 1. 1. 96) 

Wir wollen hier nicht alles aufführen. 
Der Artikel ist lohnenswert und wenn 
ihr wissen wollt, woher der Wind 
weht, holt ihn euch einfach... 

Die neue Qualität, die in ihm ange¬ 
deutet wird, ist das Hand in Hand von 
SPD und CDU, die in selten deutli¬ 
cher Einmütigkeit agieren und von 
daher ein Umfallen der SPD auch im 
gesamten Atomkurs realistischer ma¬ 
chen. Und, das von den Schweinchen 
das Ganze selbst von bisher langfri¬ 



stiger Planung in die nahe Zukunft 
geholt wird: Erstmals wird in diesem 
Artikel erwähnt, daß der „geplante 
Baubeginn” für den EPR-Reaktortyp 
schon „das Jahr 1999” sein soll, (ihr 
erinnert euch: der oben erwähnte von 
Siemens und Framatone geplante 
neue „Sicherheitsreaktor“, der ur¬ 
sprünglich erst frühestens ab Jahr 
2005 in Angriff genommen werden 
sollte) 

Dennoch: Die Energieversorgungsun- 
temehmen (als spätere Auftraggeber) 
haben keine Eile. Sie lassen sich gün¬ 
stigere Rahmenbegingungen servie¬ 
ren, bevor sie in einen offenen Kon¬ 
flikt einsteigen. Derweil steigen sie 
mit Milliardengewinnen in ihre bishe¬ 
rige und in neue Branchen ein: 

Der große Reibbach der EVU’s 
mit dem Strom 

1990 handelten die große Drei (RWE, 
Veba und Viag/Bayernwerk) mit der 
damaligen DDR-Regierung den soge¬ 
nannten Stromvertrag aus und über¬ 
nahmen damit für die gesamte DDR- 
Stromindustrie die Geschäftsführung. 

SF 1/96 [25j 










Da sie damit bis 1991 die Strompreise 
auf westdeutsches Niveau steigern 
konnten, ließen sie sich praktisch 
durch die ostdeutschen Bürgerinnen 
den Verkauf ihrer eigenen Stromindu¬ 
strie in vier Jahren bezahlen. Der 
Atomstrom hat „den Konzernen eine 
weitere phantastische Geldquelle er¬ 
schlossen: den Atommüll Was ge¬ 
meinhin als das größte Problem der 
Atomkraft gilt , die ungelöste 'Entsor¬ 
gungsfrage, verwandelt sich in den 
Bilanzen von RWE, Veba und Viag in 
eine schier unerschöpfliche Kasse. 
Das Zauberwort für die atomgetriebe¬ 
ne Geldvermehrung heißt Rückstel¬ 
lung. Weil niemand genau weiß, wie 
teuer das endgültige Atommüllgrab 
und vor allem der spätere Abriß der 
verstrahlten Atomzentralen werden, 
langen deren Betreiber per Strom¬ 
rechnung schon vorab kräftig zu. ” Am 
Beispiel des AKW Brokdorf: „Dort 
kassiert die Betreibergesellschaft un¬ 
ter Führung der Veba mit amtlicher 
Genehmigung allein für den späteren 
Abriß 1,88 Pfennig pro Kilowattstun¬ 
de und sammelt so in 20 Jahren rund 
3,75 Milliarden Mark ein - fast soviel 
wie die ursprünglichen Baukosten. 
(...) „Insgesamt besorgten sich die 
Atomkraft-EVU auf diese Weise Steu¬ 
er- und zinsfrei bis heute schon rund 
40 Milliarden Mark, mit denen sie 
kaufen können, was sie wollen. Ob 
und wann das Atomgeld in dieser 
Höhe wirklich gebraucht wird, muß 
sie nicht kümmern. Die Frage stellt 
sich erst Jahrzehnte später.” (Zitate 
aus Spiegel 46/95) 

Einstieg in Zukunftsbranchen 

„Die Stromfürsten dehnen unterdes¬ 
sen ihr Reich in immer neue Branchen 


aus. Längst ist es nicht mehr möglich, 
auch nur einen Tag in Deutschland zu 
verbringen, ohne einem der Energie¬ 
konzerne auch ausserhalb der Strom¬ 
rechnung Tribut zahlen zu müssen. 

Die Stromer, die fleißig Firmengrup¬ 
pen zusammenkaufen, sind 
vor allem auf eines aus: auf 

In der Abfallwirtschaft ha- ' 

ben Firmen wie die RWE- ' ( 'WR 

Töchter Trienekens und R .. ?.<■ Sp 

Westab schon rund ein p*s-„ - • : . f 
Viertel des Marktes im .. 

Gri ff- Eifrig bauen sie als 
Generalentsorger für ganze ] 

Regionen neue Monopole * ; !C 

Über Kredite und Posten Übernahmen 
sie auch die Regie beim ‘Dualen Sy¬ 
stem’für Verpackungsmüll. Schon et¬ 
wa die Hälfte der jährlich vier Milli¬ 
arden Gebühren für den Grünen 
Punkt landen in den Kassen der Stro¬ 
mer. Auf der Gegenseite, bei den Müll¬ 
erzeugern, beherrscht die Münchner 

Viag/Bayernwerk-Gruppe mit Dut¬ 
zenden Unternehmen den Markt für 
Verpackungen aller Art, von der Pet- 
lasche bis zu Aluminiumdose. 
Strategisch bauen die Energieversor¬ 
ger auch ihre Beteiligung in der Was¬ 
serwirtschaft aus, wo erneut große 
Monopolgewinne winken. (...) 

Alle gemeinsam rüsten für die Erobe¬ 
rung des Telefonmarktes ab 1998. 
Auch das dann aufgelöste Staatsmo- 
nopol droht nun in die Hände eines 
nicht minder teuren privaten Oligo¬ 
polszu fallen. So bringt die kleine 
Elektrizitäts-Elite einen immer größe¬ 
ren Teil des Sozialprodukts unter ihre 
Kontrolle. ‘Die Monopole der Strom- 


konzerne’, warnt Dieter Wolf, PTäsi- 
dent des Bundeskartellamts, 
enorm schädlich für die Volkswirt', 
schaft /” i 

Soweit der Spiegel, dem wir hier mal 
recht geben müssen. 




Und wir? 

Nach diesem kleinen Rundunaschlag 
wollen wir aufhören, euch mit weite 
ren Einzelheiten zu bombardieren. 
Interessanter finden wir die Frage, ob 
wir Linksradikale die Entwicklung 
dieser gigantische Maschinerie ig n ° 
rieren und damit - so meinen wir ] e 
denfalls - auch die Erfolge aus 
Jahren Anti-AKW-Bewegung verspi^ 
len. Wir wollen Euch keinen konkre 
ten Handlungsvorschlag mitlief ern ‘ 
Der Widerstand z. B. gegen den ersten 
Castortransport nach Gorlelhen b a 
gezeigt, daß die Anti-AtormBeWC" 
gung sich zu wehren weiß. Weitet 
Transporte werden folgen und 
Vorbereitungen für einen noch teure 
ren Einsatz sind im Gange. Unse* e 
Frage lautet eher: warum immer wa r 
ten, bis die anderen kommen?; 

Es gibt viele Möglichkeiten, bffensi v 
zu werden.- wir sollten sie nutzen-* • 
Einige Autonom 








i.i • 


■■■ ■■ ' ■■• ■■ ' . ■ 
v -' ■. .. 

««»»>»»»»'»1 ;' ’Mr. 

: : ■■ ■: ': : ■ . ■■■ . ■ • ' 

. , ... . : . '' '■ 

' :■ : ' : -V: 

■fflSBiiÄiiiii««*! 

I ms 




lilii 


■ .. ■. 

»«lilii 

SfiSlS®# 










Begegnungen mit den 
Ältesten Simbabwes 


von llija Trojanow 


Alle Folos: llija Trojanow 


Rund fünfhundert Jahre nachdem Vascb 
da Gamas Afrika umsegelte, und somit 
als erster das ganze Profil unseres süd¬ 
lichen Nachbams gewahr wurde, glau¬ 
ben die meisten Europäer, das traditio¬ 
nelle Afrika sei untergegangen, oder 
kurz davor, in der Konfrontation mit 
einem viel stärkeren, sprich unserem, 
System unterzugehen. Ob Staats- oder 
Erziehungswesen, ob Kleidung oder 
Technik, die europäische Zivilisation 
scheint sich gänzlich durchgesetzt zu 
haben. Ein fragwürdiger Erfolg. Die 
katastrophalen Folgen werden allge¬ 
mein beklagt, doch Abhilfe verspricht 
man sich wiederum von Exporten un¬ 
serer Kultur, Allheilmittel, die seit 
Jahrzehnten der ganzen Welt angeprie¬ 
sen werden: Investitionen, Marktwirt¬ 
schaft, parlamentarische Demokratie. 























Noch trägt Afrika seine Vergan¬ 
genheit in sich, noch könnten wir die 
kulturelle Einbahnstraße von Nord nach 
Süd verlassen. Und noch verhalten sich 
viele Afrikaner anders, als wir aus dem 
Norden es erwarten. Angesichts der 
überwältigenden Technik der fremden 
Eroberer hat sich Afrikas Widerstand 
im Laufe der Zeit zunehmend auf stille 
Verweigerungreduziert. DieBeziehung 
war bislang von gegenseitiger Täu¬ 
schung geprägt: Die Europäer gaben 
vor, Gutes zu bringen, und die Afrikaner 
gaben vor, es anzunehmen. Europäi¬ 
sches Drängen stößt weiterhin auf afri¬ 
kanische Resistenz, in keinem Bereich 
mehr als im Geistigen. Wer von der 
Missionierung Afrikas spricht, über¬ 
sieht, daß die meisten Besucher sonn¬ 
täglicher Gottesdienste die Verbindung 
zu den Ahnen, zu traditionellen Ritualen 
aufrechterhalten. Unabhängige afrika¬ 
nische Kirchen lassen das Traditonelle 
und das Christliche gleichberechtigt 
nebeneinander bestehen-dieZahl ihrer 
Mitglieder steigt. Das Althergebrachte 
hat mehr Ausdauer, als von vielen ver¬ 
mutet. Es gibt Werte, schrieb Frantz 
Fanon in seinem Buch Schwarze Haut 
Weiße Masken, die sich der Herrschaft 
der Weißen nicht fügen. Diese Werte 
leben weiter, vor allem in den Alten und 
Ältesten. 

Um sie kennenzulemen reisten der 
simbabwische Autor Chenjerai Hove 
und ich letztes Jahr durch die Dörfer 
seines Landes und verbrachten Stunden 
oder Tage mit weisen alten Frauen und 
Männern. Wir stellten Fragen, hörten 
ihnen zu, weil wir davon ausgehen, daß 
man von Afrika noch etwas lernen kann. 
“Wir bitten sie, unser zu gedenken, und 
so erinnern wir uns auch an sie, und 
ehren sie”, beschreibt einer der Ältesten 
das Verhältnis zu seine Ahnen. “Heute 
sind die Stimmen tot, denn keiner hört 
ihnen zu”, sagt eine der Frauen. Leben 
entsteht immer aus wechselseitigen 
Beziehungen. Die Beschwörung er¬ 
weckt den Beschworenen zum Leben, 
und der Zuhörer gebärt den Redenden. 
Die Gegenseitigkeit müßte für die Be¬ 
ziehungen zwischen Europa und Afrika 
gelten. Nur wenn wir die Gedanken und 
Gefühle Afrikas mit ihrer ganzen 
Fremdheit wahmehmen, und diesen 
Kulturen helfen, sich an die technische 
Moderne anzupassen, ohne sich selbst 
zu verlieren, kann dieser vernachlässigte 
und geschundene Kontinent wieder zu 
seiner ganzen Lebensfähigkeit finden. 



is ta» 








iiSiiil«!« 

■Hm 


Vereinsamung, Materialismus, b 
Süd-Gefälle - scheinen sich als 
accompli zu etablieren, im Haup 
benannt und im Nebensatz, mit R, 

nation oder Achselzucken, abgetan 

Denken und Handeln, als gäbe e 
die Menschheit nur eine Geburt 
seien wir nicht Zeugen der Vergan 
heit, nicht Akteure der Zukunft 
verstehen unsere Väter und Vor 
immerweniger, und mißverstehend 

auch uns selbst, unseren Instinkt Ur 

Erinnerung (die gelebte, nicht die 
dem ische) leidet an Magersucht 
Anbeginn der Moderne beklagen 
schwören und besingen wir, daß 
Natur und die Menschen sich nicht r 
viel zu sagen haben. 

Die Worte der Ältesten vermi 
etwas von der Kraft und dem Za 
einer Verwurzelung in der Natur 
fuhren uns in unsere Vergangenhei 
ruck. Viele Menschen sind schwa 
sagt der Dichter Aime Cesaire “ 
sie nicht wissen, wie man zu Stein v 

zu Baum.” Wahrscheinlich werder 

Europäer diese Fähigkeit nicht wie 


erlangen, aber sie könnten zumindest 
ihre Begrenztheit erkennen, und etwas 
Demut lernen. Denn in den robotro- 
nisierten Welten, die wir gerade übe 1 " 
den ganzen Globus spannen und ver¬ 
netzen, bietet die geistige Welt Afrikas 
noch einen der Horte von Menschlich¬ 
keit. j 

Das Land um Chief Kaisa Ndiwenis 
Haus herum ist kahl. Die Hügel gähnen 
vor Erschöpfung. Man kann in dieser 
Gegend fast nicht von Vegetation sprc' 
chen. Chief Ndiweni, traditioneller 
Führer in dem Gebiet östlich der mo¬ 
dernen Stadt Bulawayo, scheint voller 
Schmerzen zu sein, so wie alles andere 
auch, so wie die Menschen um ihn 
herum, die verzweifeln und trauern. 
Selbst Vögel und Tiere haben das Land 
verlassen, vor vielen Jahreszeiten der 
Dürre. Nur der braune Staub erzählt 
den Füßen, daß einst Leben auf diesem 
Boden wuchs. Alles andere wiederholt 
nur das Elend der kahlen Erde und des 
einsamen Himmels. 

78 Jahre alt und gebrechlich wie sein 
Land, beklagt Chief Ndiweni die ver¬ 
lorene Würde seines Volkes, den Tod 


[28] SF 1/96 









§§18 




mm 


des Geistes, der früher von der Einheit 
zwischen ihm und seinen Mitmenschen 
sprach. 

Die Landfrage verursacht den Men- 
sehen in diesem Land viele schlaflose 
Nächte. Wir respektieren die Erde. Die 
Götter haben uns diese Erde gegeben. 
Nicht der Mensch hat sie erschaffen. Es 
ist das Werk der Götter, der Schöpfer 
v pn Himmel und Erde. Es war bei uns 
n icht Brauch, ein Stück Land zu ver¬ 
kaufen. Die Erde wurde für alle Men¬ 
schen erschaffen. Die Gebildeten sagen 
nun > Land müsse käuflich sein. Wenn 
Land gekauft werden kann, bedeutet es, 
daß Menschen Geschäfte mit etwas 

Rachen, das für alle erschaffen worden 

ist. 


Als die Weißen in unser Land kamen, 
teilten sie fest, daß die Menschen leb* 
wo immer sie wollten. Also siedel- 
" n auch sie sich an, wo immer sie 
Rollten. Aber im Laufe derZeit wählten 
Weißen gewisse Gebiete aus, auf 
lc sie ein Auge geworfen hatten, und 
fklärten sie zu ihren Gebieten. Sie zo- 
en Zäune um Land, das nie gekauft 
'Orden war, und nannten es ihr Privat¬ 


besitz. Land, das nie gekauft worden 
war. In dieser Gegend haben wir früher 
die Häuser und die Felder nur einge¬ 
zäunt, um sie vor wilden Tieren zu 
schützen. 

Es ist alles eine Frage des Geldes. In 
diesem Land, in dem Land unserer Ge¬ 
burt, haben wir ein großes Problem. 
Jene, die Geld haben, können Land 
kaufen. Aber wo sollen die Menschen 
leben, die kein Geld haben? Das ist ein 
sehr großes Problem. Es schmerztsehr, 

das eigeneGeburtsrechtkaufenzu müs¬ 
sen Die Menschen stehen sich gegen¬ 
seitig auf den Füßen, beengt, weil sie 
kein Geld haben. 

Diese Erde gehört den schwarzen 
Menschen. Aber die Weißen müssen 
das Land nicht verlassen. Wir müssen 
nur das Land teilen, gerechter verteilen, 
und nicht ein riesiges Stück einem Ein¬ 
zelnen lassen. Landlosigkeit zerstört un¬ 
sere Menschlichkeit. Es zerstört uns, 
unsere eigene Persönlichkeit. 

Wenn Menschen verhungern, wenn 
ihnen der Platz fehlt, Vieh und Ziegen 
zu halten, wenn sie nirgendwo pflügen 
können, sind die Geister des Landes, 


die Geister unserer Vorfahren traurig. 
Wenn wir nicht glücklich sind, sind die 
Geister unserer Vorfahren, die in dieser 
Erde begraben liegen, traurig. Die Regen 
bleiben aus, unheilbare Krankheiten 
breiten sich aus. Etwas stimmt mit die¬ 
sem Land nicht. 

Der christliche Gott ist geringer als 
unserer. Man sagt ihm nach, er würde 
die Menschen in der Hölle ewig schmo¬ 
ren lassen. Er ist geringer, weil unser 
Gott uns lehrte, daß es zwischen zwei 
Menschen nichts Böses gibt, das nicht 
vergeben werden könnte. Unser Gott 
sagte, wenn zwei Brüder sich über etwas 
stritten, wird die Zeit kommen, zu ver¬ 
geben und zu vergessen. Ein Ritual der 
Vergebung wurde durchgeführt. Die 
anderen Familienrituale konnten nicht 
erfolgen, wenn in einer Familie zwei 
Brüder im Zwist miteinander lagen. Es 
mußte Harmonie zwischen den Brüdern 
herrschen. Die streitenden Brüder gaben 
sich gegenseitig Asche, die ohne Wasser 
gegessen werden mußte. Nachdem sie 
diese gegessen hatten, waren sie Men¬ 
schen mit einer neuen Vision von Har¬ 
monie ... 

Heute gehen die Führer nicht einmal 
hinaus, um die Stimmen der Menschen 
zu hören, damit sie wissen, wie sie 
leben. Unsere Regierung besteht aus 
Politikern. Die Regierung steht in keiner 
Tradition. Früher hatten die Chiefs die 
Macht, das Leben der Menschen zu 
verbessern. In Dürrezeiten schickten 
sie diese in Gebiete, in denen es einen 
Überschuß an Nahrung gab. In Loben- 
gulas Königreich mußte einer, der mehr 
Nahrung besaß, als er brauchte, diese 
mit den Unglücklicheren teilen. Wer 
viele Kühe hatte, lieh einige an jene 
aus, diekeine hatten. Die Armen hüteten 
diese Kühe, melkten sie und ernährten 
ihre Kinder. So überlebten die Armen, 
gediehen sogar. Die Armut wurde aus 
dem Dorf vertrieben. Niemand mußte 
Hunger leiden. 

Unter traditioneller Herrschaft mußte 
niemand verhungern; im Königreich 
der Ndebele gab es keine Armut Einzel¬ 
ner. Die Menschen sorgten füreinander. 
Wenn ein Nachbar Not litt, war es sei¬ 
nem Nächsten selbstverständlich, ihm 
eine Kuh auszuleihen, anstatt sie zu 
verkaufen, damit auch die andere Fa¬ 
milie genug zu essen hatte. Wenn das 
ausgeliehene Tier geschlachtet wurde, 
teilten sich der Besitzer und derjenige, 
der es gehütet hatte, das Fleisch zu 
gleichen Teilen, als hätte es beiden ge- 


t 

i 


i 

i 


SF 1/96 [29] 







hört. Dieser Brauch brachte die Men¬ 
schen einander näher, sie kümmerten 
sich umeinander, fühlten miteinander. 

Es ist nutzlos, als einziger im Dorf 
einen vollen Bauch zu haben. 

Unsere Führer sehen das alles, aber 
sie geben vor, es nicht zu sehen. Sie 
schließen ihre Augen und tun nichts für 
das verhungernde Kind, für die alte 
Frau, die aufgrund des Hungers jeden 
Selbstrespekt verloren hat, für den 
Vater, der sich schämt Vater zu sein, 
weil er nicht für seine Kinder sorgen 
kann. 

Die heutigen Führer sagen, wir müs- 


erzümst, mußt du die Schwester deines 
Vaters holen, damit sie die Flamme 
löscht. Du sagst zu ihr, Tante, ich habe 
meine Mutter verärgert, was soll ich 
tun? Die Tante möchte den Grund des 
Anstoßes erfahren. Du sagst ihr alles 
und sie nennt dir ein Heilmittel, denn 
inzwischen wirst du erlebt haben, daß 
der Zorn einer Mutter unendlich ist. 

Die Tante wird ihre Brüder einladen 
damit du Harmonie mit deiner Mutter 
ersuchen kannst. Du berichtest ihnen 
von dem Problem, und gestehst, daß du 
deine eigene Mutter verärgert hast. Du 
mochtest dich und sie befreien, denn 



sen vorwärts gehen. Aber ist es denn 
richtig, den falschen Weg vorwärts zu 
gehen? Ist es nicht besser, innezuhalten, 
eine zeitlang zu rasten und nachzuden¬ 
ken?” 

Ein junges Mädchen kommt ange¬ 
laufen, ziehtan seiner Hand. Sie möchte 
mit ihm reden. Es wird Zeit für uns 
weiterzufahren. Langsam entfernt sich 
Kaisa Ndiweni, geht über das kahle 
Land und hört sich die Sorgen seiner 
Enkelin am 

Ambuya Manditsera trägt in sich die 
Erinnerung der Landschaft. Sie spricht 
über den Schoß einer Frau wie über 
einen Schrein. Sie spricht über die Be¬ 
ziehungen der Menschen zu den Stim¬ 
men der Natur, in all ihren Ausprä¬ 
gungen... 

“Der Zorn einer Frau ist von Natur 
aus unermeßlich. Wenn du eine Mutter 


— »««vjciangms. Man kann dt 
nur entkommen, wenn man das 
schehene wiedergutmacht. 

Mutter ist Liebe und Zorn. In il 
der Zorn und die Liebe des Kinde 
barens Sie kann ihren eigenen S< 

verfluchen, warum hat mirdieser S< 

solch ein Kind gegeben? Das ist 
Stimme. Deine Tante wird viellc 

demeMutterüberreden, zuzuhörer 

bitten, die Last ihres Herzens zu äu£ 

Wenn deine Mutter voller Zorn st 

ist das ein schlechtes Zeichen. W 
hchkeit ist ein brennender Zorn. L 
wird Zorn. Alles brennt. Eine Mu 
die in Zorn stirbt, bedeutet Wahn 
für das Kind, das sie verärgert hat 



x^i du some nicht in Zorn < 

Siestammtaus dem Schoßeiner- 

Frau. Auch ihr Schoß hat den 


des Lebens genährt, dich, ihr Kind. 
Wenn dein Vater wegen deines Ver¬ 
gehens dieses oder jenes von dir fordert, 
besorge es. Wenn deine Mutter sagt, 
kaufe mir ein Stück Stoff» weil deine 
Stimme die Stimme der Respektlosig¬ 
keit war, dann mußt du es tun. Deine 
Eltern zu beleidigen ist ein großes Ver¬ 
gehen. Es schwappt in dein Gewissen 
über. 

Wenn ihr Sohn weit weggegangen 
und nicht zurückgekehrt war, nahm die 
Frau eine glühende Holzscheide in die 
Hand und rief die Namen der Vorfahren 
an, während sie in der Glutasche schürte. 
Mit Worten schmerzender Trauer. Bald 
darauf kehrte der Sohn von allein zu¬ 
rück. Sein Geist und sein Herz werden 
die Nachricht von dem Schmerz in dem 

Geist und dem Schoß seiner Mutter ver¬ 
nommen haben. 

Der Zorn einer Mutter ist der Zorn 
ihres Schoßes, in dem der Samen eines 
menschlichen Wesens zuerst genährt 
wurde. Der Schoß ist ein Schreim Wenn 
du deine Mutter schlägst, mußt du eine 
Reinigung vollführen. 

Das Ritual demütigt denjenigen, der 
dem ganzen Land Übles getan hat. Der 
Mann läuft halbnackt durch das Dorf, 
nur in Fetzen gekleidet, von den Kindern 
gehänselt, eine Zielscheibe des Spot¬ 
tes im ganzen Land. Manchmal trägt er 
nur zusammengebundene Blätter. Ein 
Mann, der seine Mutter schlägt, ist ein 
Biest. 

Wenn deine Mutter gestorben sein 
sollte, bleibst du allein und glaubst dich 
über der Schwelle der Gefahr. Du hei¬ 
ratest, zwei oder drei Kinder werden dir 
geboren. Bald aber kriecht der Tod her¬ 
ein wie ein Dieb. Ein Kind stirbt. Du 
denkst dir, ich habe noch andere. Dann 
stirbt ein weiteres, und dann noch eins. 
Das letzte Kind ist tot. In deinem Herzen 
spürst du die Geburt eines weiteres 
Kindes. 

Wahrsager bringen Nachrichten und 
Visionen an deine Tür. Du bist nun ein 
Waise ohne Kinder und ohne Mutter, 

sagen sie. Dein Leben ist verwaist, sagen 

sie. Und alles nur, weil du deine Hand 
gegen deine Mutter erhoben hast. Nur 
du selbst kannst dich reinigen. 

Dann saßen die Ältesten mit dir zu¬ 
sammen, ließen dich an ihren Worten 
teilhaben ... wir brauchen eine Ziege, 
und Bier aus der Hirse, die du von den 
Menschen im ganzen Zimunya Land 
erbetteln mußt, nicht aus deiner Korn¬ 
kammer. Wir brauchen auch ein Stoff" 


[30] SF 1/96 















stück oder eine Decke. Du gehst von 
Heim und Heim, stets mit den Worten: 

Ich habe den Schoß meiner Mütter 
beschämt 

meinen Arm gegen meine Mütter er¬ 
hoben . 

Und nun betrete ich euer Haus 
als einer, der um Getreide bettelt. 
Nachdem du genug Getreide gesam¬ 
melt hast und das Bier gebraut werden 
kann. Du gehst wieder herum: 

Meine Väter, oh 
Meine Mütter, oh 
Onkel und Tanten , ihr, 
das Getreide ist hier 
die Ziege ist hier 
der Stoff ist hier 
Oh, Mutter 

Meine Weisheit war in Dummheit 

verwandelt 

mein Wissen in Unwissenheit 
ich bete um Reinigung 
daß ich den Schoß ehre 
der mir Leben gab 
daß ich den warmen Herd erlebe 
m it Kindern in meinem Haus 
Oenn voller Unwissen habe ich ge¬ 
kränkt. 

Jetzt wird das Bier gereicht. Du trägst 
n °ch die Fetzen deiner Reinigung. Du 
^Irst wieder Mensch, der Geist deiner 
Mutter ruht wieder, der Zorn ist verflo¬ 
gen, die Flammen, die dich verschlan- 
& en > sind zu Rammen geworden, die 
dich in Liebe umarmen. Das Leben 
beginnt wieder. Zehn Kinder in deinem 
Haus, das voller Lachen ist. 

Die Erde hat sich verändert. Heute 
kranken und beleidigen junge Männer 
Un d Frauen den Schoß, der ihnen Leben 
g e geben hat, an jedem Ort, an jedem 
Tag. Aber die Bestrafung ist taurig, all 
die Verbrechen in diesem Land, in an¬ 
deren Ländern, von denen wir hören. 
Menschen töten andere Menschen, 
damit sie Teile des Körpers für anderes 
^°ben verwenden können. Wann hat es 
etwas schon mal gegeben? Mit dem 
Tod werden Geschäfte gemacht. Das ist 
d>e Strafe fürdie Mißbildungen unseres 
Lebens. 

In den Tagen unseres Volkes mußte 
der König ein gutes Ohr für die Stimmen 
der Lebenden und der Toten haben. 
Heutesind dicStimmen tot. Denn keiner 
ört ihnen zu. Die Führer gehen überall 
ln , nur nicht zu ihren eigenen Leuten, 
u m die Stimmen der Toten, die Stimmen 
aus den Höhlen und den Flüssen, die 
brnrnen aus den Tieren und den Vögeln 
zu Vc mchmcn. 


Niemand weiß mehr, als all diese 
Stimmen. Keine Schule kann uns unser 
Leben aus Vergangenheit, Gegenwart 
und Zukunft lehren. 

Die Vorfahren sind weise. Wir, die 
Lebenden, sind töricht. Das Land gehört 
nichtdir. Die Erde gehört nicht uns. Die 
Welt gehört den Vorfahren, die sie, 
zusammen mit Gott, erschaffen haben. 
Und uns wurde Respekt und Stolz mit¬ 
gegeben, angesichts der vielfältigen An¬ 
wesenheit auf der Erde: Menschen, Vö¬ 
gel, Tiere und Bäume.” 

Frühmorgens marschiert Mike Mat- 
sosha Hove, verwundert über die Aus¬ 


dauer unseres Schlafes, in das Zimmer 
und ruft: Leute, wie wollt ihr sicher¬ 
stellen, daß die Hexen zu Bett gegangen 
sind? Wie könnt ihr weniger fleißig 
sein als die Sonne? Während des Früh¬ 
stücks merken wir, daß seine Gedanken 
die Nächte durchmachen und den Um¬ 
trieben der Hexen trotzen. Denn M.M. 
Hove ist ein nüchterner Bewahrer der 
Tradition, ein Mann, der eine euro¬ 
päische Ausbildung erhalten hat, und 
im Laufe seines langen Lebens das 
Einsichtige, Überzeugende und Schöne 
beider Kultursphären verinnerlicht hat. 
Im Augenblick beschäftigt ihn die Kul¬ 
tur der nordamerikanischen Indianer. 
Ihre Einstellung zum Leben und zur 
Natur erscheint ihm bei allen Differen¬ 
zen im Detail sehr vertraut. 

Mike Hove erzählt fast den ganzen 
Tag hindurch, denn er hat im Laufe sei¬ 


nes langen Lebens einen großen Reich¬ 
tum angehäuft, und diesen nicht mit 
den anderen zu teilen, wäre doch selbst¬ 
süchtig. 

“Der Mensch ist natürlich nurTeil ei¬ 
nes viel größeren Systems. Ich unter¬ 
scheide mich nicht so sehr von der An¬ 
tilope, die in unserem Wald weidet. Sie 
überlebt, genauso wie ich, indem sie die 
Natur nutzt, das Wasser, das Gras und 
vieles mehr. Vielleicht bin ich intelli¬ 
genter als die Antilope, denn ich kann 
mich vor ihr ernähren, was sie nicht 
kann, abgesehen davon, daß sie mein 
Getreide stiehlt. Die Europäer glauben. 


der Mensch sei dazu berufen, die Natur 
zu erobern. Die Berufung der Afrikaner 
bestand genau in dem Gegenteil. Wir 
haben die Natur nur geringfügig erobert 
und sie nicht so verletzt, wie es jetzt 
geschieht. Nehmen wir das Beispiel 
eines Löwen, der sich umherlreibt und 
unser Vieh reißt. Wir werden ihn erle¬ 
gen. Aber solange er da draußen fried¬ 
lich lebt, lassen wir ihn in Ruhe. Die 
Reichtümer der Natur können von uns 
genutzt werden. Aber wir haben die 
moralische Pflicht, sie in ihrem Zustand 
zu belassen. Wenn du zum Beispiel in 
einem Buschgebiet unterwegs bist, wirst 
du unzählige Fruchtbäume finden. Du 
wirst essen soviel du essen mußt. Den 
Rest wirstdu für diejenigen übriglassen, 
die nach dirkommen. Vielleichtnimmst 
du eine Kleinigkeit als Proviant mit, 
aber nicht mehr. Wenn du noch etwas 



SF 1/96 [31] 


















■M I mmm 

y '0$, 

<■ 


mm 


WM 

mmm 


■ 


wmmm 


m 


mm 


liill 

m i 


für die Küche daheim pflückst, ist das 
eine andere Sache. Dann sammelst du 
für andere, für deine Familie. Nehmen 
wir zum Beispiel einen wilden Frucht- 
. bäum namens mashoko . Es gab riesige 
Wälder von diesem Baum - und Tonnen 
von Früchten. Wißt ihr, wie all das 
verschwunden ist? Es gab 130 Kilome¬ 
ter von Bulawayoentfemteinen Farmer, 
der die Stadt mit Gemüse versorgte. 
Das Gemüse wurde in Steigen trans¬ 
portiert. Wenn der mashoko-Bmm noch 
grün ist, läßt er sich leicht in Streifen 
hacken ... so wurden die Steigen her¬ 
gestellt. Eines Tages kehrte ich aus 
Harare heim und mußte sehen, daß der 
Großteil der Wälder abgeschlagen wor¬ 
den war. Dabei wird uns Afrikanern 
vorgeworfen, die natürlichen Reich- 
tiitner verpfuscht zu haben. Das stimmt 
nicht. Bulawayo wareine Minengegend. 
Früher gab viele Tiere. Wenn man jetzt 
nach Shawane kommt, sieht man nur 
noch kahle Hügel. Es gab dort riesige 
Bäume, Akazien und andere Hartholz¬ 
bäume. Sie wurden geschlagen, weil 
das Holz für die Minenschächte, für 
Öfen und die Eisenbahnlinie benötigt 
wurde. Die meisten unserer Sprich¬ 
wörterhandeln von Tieren, von Vögeln 
und Bäumen. Worüber unterhielt man 
sich schließlich? Über die Umwelt; was 
für Erfahrungen hätten wir ohne diese 
Umwelt? Die Weisheit der Menschen 
reifteaus ihrer Umgebung heraus. Wenn 
Natur dein unmittelbares Erleben ist, 
kannst du nicht anders, als deine Weis¬ 
heit aus ihr abzuleiten. 

Es war nicht üblich zu bestrafen. Nach 
einem Verbrechen wurden verschiedene 
Zeremonien durchgeführt, um das Böse 
zu vertreiben. Und in vielen mir be¬ 
kannten Fällen zeitigte das Wirkung. 
Es gab mal einen jungen Mann, der sehr 
lästig war, weil er ein gieriges Auge 
hatte - er steckte alles ein, was ihm in 
die Hände kam. Nachdem man sich 
seiner bemächtigt, ihm ins Gewissen 
geredet hatte und so weiter, wurde eine 
große Zeremonie abgehalten. Er mußte 
etwas einnehmen, und das zwang ihn, 
sich zu übergeben. Man erklärte ihm, 
dies werde getan, um seine Hand zu¬ 
künftig davon abzuhalten, die Sachen 
anderer Leute einzustecken. Das war 
die zeichenhafte Seite der Angelegen¬ 
heit. Das reinigende Mittel konnte etwas 
Harmloses sein, etwas, das man auch 
Kranken verabreicht. In ganz schlim¬ 
men Fällen wurde die Person ausge¬ 
stoßen. Wer sich von den anderen ent¬ 


fernte, wurde schließlich zum Einzel¬ 
gänger, und es gab nichts Schlimmeres, 
als Einzelgänger zu werden. Das war 
eine effektive Drohung. Gefängnisse 
waren nicht nötig, weil man nicht be¬ 
strafte. Man suchte nach einer Lösung. 
Es wurde eine Nadel benutzt, um das 
gerissene Tuch zu flicken. Wenn gegen 
einen Mörder prozessiert wurde, mußte 
dieser eine Frau zur Verfügung stellen, 
die anstelle des Ermordeten einen an¬ 
deren Menschen reproduzieren mußte. 
Die Brücke zwischen den Lebenden 
und den Toten mußte repariert werden. 
Harmonie diesseits und jenseits der 
Brücke war von zentraler Bedeutung. 
In dem Moment, in dem böses Blut auf 
dieser Seite der Brücke vorherrscht, 
entledigen sich die Verstorbenen ihrer 
Pflicht der Fürsprache; Also mußte die 
Harmonie wiederhergestellt werden. 
Und wenn die Angehörigen des Ermor¬ 
deten, überwältigt von ihren Gefühlen, 
sich an dem Mörder rächten, waren sie 
keine Unschuldigen mehr. Denn es gab 
keine Rechtfertigung, einen Menschen 
zu töten. 


Der vorbildliche Mensch istein Men¬ 
sch, der nicht für sich selbst allein lebt. 


Er ist stets Teil eines Teams, Teil einer 


Gemeinschaft. Er achtet die Überein¬ 
kunft in der Gemeinschaft. Er ist ein 
Mensch, der nicht abtrünnig wird, ein 
Mensch, der mit den anderen fühlt, ein 
Mensch, der weiß, daß unsere Gemein¬ 
schaft aus zwei Teilen besteht, die ge¬ 
trennt und doch unzertrennlich sind: 
den Lebenden und den Toten. Er ist ein 
Mensch, der niemandem Schaden zu¬ 
fügen will. Das ist der Rahmen der 
Kraft, die den Menschen Gutes tun läßt* 
Höflichkeit ist der Schlüssel zu den 
Herzen der Menschen. Wenn du in eine 
unbekannte Gegend kommst und Hun¬ 
ger hast, wenn du einen fremden Ort 
erreichst und einer Frau begegnest wirst 
du zu ihr sagen: Die Art wie Frauen ihre 
Kinder gebären ist überall gleicher¬ 
maßen schmerzhaft, leidvoll und be¬ 
glückend. Das ist höflicher als zu sagen* 
Ich hab Hunger. Und sie wird verstehen, 
was du meinst. Du erinnerst sie an den 
Schmerz, den sie für ihre Kinder erlitten 
hat, und an das Glück, das sie verspürt 


M.M. Hove 


[32] SF 


1/96 









































hat. Und wen liebt sie mehr, als ihre 
e igenen Kinder? Wenn sie sich in meine 
Mutter hineinversetzt, wird sie meine 
Mutter. Wenn sie irgendetwas in der 
Küche hat, wird sie sogleich zu kochen 
beginnen. Jede Frau, die älter ist als ich, 
wird mich mein Sohn heißen - das ist 
Höflichkeit. Das ist der Schlüssel zu 
dem Herzen jener Frau, von der du 
gerne Essen erhalten würdest. Und sie 
wird es tun. Ich habe das viele Male 
erlebt und ich glaube, ich verdanke mein 
hohes Alter der Liebe der Menschen 
um mich herum. Ein Sprichwort lautet, 
jedes Kind ist das Kind von jedem. Du 
mußt mich nicht kennen, um meine 
Kinder zurechtzuweisen. Sie sind auch 
deine. Wenn Kinder sich aus dem Kern 
ihrer Familie entfernen, bewegen sie 
sich in einen anderen Kern hinein, zu 
anderen Eltern und Erwachsenen. Ein 
Kind wird in dem Bewußtsein erzogen, 
daß man andere Kinder nicht still¬ 
schweigend Falsches tun läßt. Und wißt 
ihr warum? Weil ihr unter den Folgen 
2U iciden haben werdet. Wenn diese 
Kinder zu schlechten Bestandteilen der 
Gesellschaft werden, werdet ihr davon 
betroffen sein. Wenn die Geister der 
Verstorbenen aufhören, sich für uns 
einzusetzen, könnten wir Dürre oder 
Stürme erleiden. Jeder ist dafür verant¬ 
wortlich, schlechtes Benehmen abzu¬ 
weisen. Jeder ist ein Hüter des Wohls, 
der Werte der Gemeinschaft. Das Kin- 
ship-System bedeutet, daß alle aus einer 
Generation Brüder und Schwester sind. 
Jeder aus der nächsten Generation ist 
ein Sohn oder eine Tochter. Das be¬ 
stimmt auch das Verhältnis zwischen 
den Menschen: Es herrscht eine Fürsor¬ 
ge und ein Respekt wie zwischen Eltern 
und Kindern. Dadurch entsteht ein um¬ 
fassendes soziales Denken und Handeln. 
Hie Weißen sind verrückt, nur die engen 
Verwandten zu zählen. Wir stammen 
alle von einem Bullen ab. 

Als junger Lehrer lehrte ich in Masase. 
Eines Tages ging ich zu dem Chief und 
sagte: Chief, ich bin in einer Schule 
großgeworden und deshalb nicht ver¬ 
traut mit unseren Bräuchen. Ich bitte 
um Erlaubnis, beim Gericht anwesend 
zu sein. Er hat ungehalten reagiert, weil 
ich ihn um Erlaubnis fragte. Er sagte: 
Das Gericht ist so sehr das Deine wie es 
das Meine ist. Es ist das Gericht der 
Gemeinschaft und du bist ein Teil der 
Gemeinschaft. Als menschliches Wesen 
war ich befugt, zu jeder Verhandlung 
zu gehen und sogar mein Urteil zu 



äußern. Als alle Beweise gesammelt 
und die Kreuzverhöre beendet waren, 
sagte der Chief: Mr. Hove, sprechen Sie 
bitte das Urteil - Sie sind der einzige, 
dessen Interessen von diesem Fall 
überhaupt nicht belangt werden. Ich 
war entsetzt. Ich sagte: Ich bin gekom¬ 
men, um zu lernen. Genau das zeichnet 
Sieaus, antwortete er. Mr .Hove, wagen 
sie einfach eine Meinung. Jeder der An¬ 
wesenden wird Sie befragen, wenn Ihr 
Urteil nicht trägt. Also wagte ich ein 
Urteil. Wir sagen, daß ein Vorbeige¬ 
hender das beste Urteil fällt. Er hat 
nichts zu verlieren und nichts zu ge¬ 
winnen, er kennt nicht alle Winkel und 
Ecken, alle Ströme und Gegenströme 
in der Gemeinschaft. 

Ein seelisch ausgeglichener Mensch 
ist ein Mensch, der seine Segnungen 
zählt. Er möchte prosperieren und er 
weiß, daß Prosperität in ihm selbst 
steckt. Er ist nicht zufrieden mit dem, 
was er erreicht hat und doch ist er 
gleichzeitig nicht unzufrieden; er ist 
dankbar für das, was er hat. Er zählt 
seine Segnungen. Glück wir durch eine 
Einstellung gezeugt, die sagt, heute er¬ 
ging es mir schlecht, morgen wird es 
besser werden. Die Ndebele sagen: 
Hoffnung bringt nicht um. Wir leben 
und bewegen uns aufgrund von Hoff¬ 
nung. In der dunkelsten Nacht muß ich 
irgendwo hin, aber sehe nicht meinen 
Weg. Ich hoffe, den Weg zu finden und 
ich finde ihn, mit meinen Füßen, selbst 


Schlangen, die mich beißen oder Men¬ 
schen, die mich überfallen könnten. So 
eine Einstellung zeugt und erhält Glück. 
Du siehst jemanden, dem es in einem 
bestimmten Feld besser ergeht als dir, 
aber auf einem anderen Gebiet geht es 
ihm nicht so gut. Mir war Reichtum nie 
wichtig, denn ich wünsche mir Wohl¬ 
ergehen, und das kommt nicht mit Geld. 
Wenn einem der Kinder, meiner Frau 
oder einem Nachbarn etwas zustößt, 
muß man sich bewußt machen, daß 
alles gut wird, und meistens wird es 
auch gut. Seine Segnungen zu zählen 
gebiert und erhält Glück, aber natürlich 
ist es kein wahres Glück, wenn man es 
nicht an andere weiterreicht. Man muß 
sein Glück teilen. 

Die Idee des Tabus hat viele Ausfor¬ 
mungen. Manchmal wird von Aber¬ 
glauben, von primiviten Sichtweisen, 
von Unwahrem gesprochen. Tabus be¬ 
inhalten aber genau gesehen Verbote 
und Aufforderungen zur Enthaltung. 
Sie sind nicht falsch, sondern sie beab¬ 
sichtigen, die Menschen in Einklang 
miteinander zu bringen. Denn nur im 
Einklang mit den anderen erkennt der 
Einzelne den Unterschied zwischen 
richtig und falsch, und handelt danach. 
Als ich aufwuchs, sagte man mir, ich 
dürfe dieses oder jenes nicht tun. Wenn 
man durchs Leben geht, ist jeder Tag 
bewölkt von Geboten und Verboten. 
Wenn du dir all das vergegenwärtigst 
und darüber nachdenkst, muß dir bewußt 


wenn ich Schuhe trage. Ich sage, es gibt werden, daß du nur ein winziges Stück- 


SF 1/96 [33] 



IIIIIHIIMN 























chen Leben im Universum bist. Du 
magst intelligenter als ein Tier sein, 
aber wohl kaum wichtiger. Du lebst 
vom Universum, du lebst darin, aber 
das Universum lebt nicht von dir. Es 
existiert, ob du da bist oder nicht. Die 
Natur sorgt für unser Auskommen, aber 
wir sorgen nicht für die Natur, es sei 
denn wir respektieren und erhalten sie 
für die Nachwelt. Darin liegt der Wert 
von Tabus: das Universum in seiner 
angebrachten Form zu bewahren, Har¬ 
monie aufrechtzuerhalten. Tabus leh¬ 
ren Bescheidenheit. Sie vermitteln dem 
Menschen, daßer Teil eines unendlichen 
Ganzen ist. 

In unserem System muß jeder ein 
bestimmtes Tier als Tabu achten. Er ißt 
es nicht, er respektiert es, weil es die 
Seinen in der Natur verkörpert. In Falle 
der Hoves ist es der Fisch - wir rühren 
ihn nicht an. Die Tatsache, daß wir kei¬ 
nen Fisch essen, obwohl er vielleicht 
sehr lecker schmeckt, dient der Diszi¬ 
plin. Sie zwingt zum nötigen Respekt, 
denn jeder hält eines Tages ein und 
denkt darüber nach, wer er ist, welche 
Bedeutung er hat, wie er im Vergleich 
mit anderen abschneidet. Das Tabu wird 



Welternährung 

/198 - Der Weg in den Hunger 

(11/95, 9 DM) 

199 DrogenVerhältnisse 

Sucht, Ökonomie, Rassismus 
(12/95, 6 DM) ■ 

200 Nigeria/Sheli (2/96, 6 DM) 

FORUM entwickiungspolltischer Aktionsgmppen 

Buchtstr. 14/15, 28195 Bremen 

Tel. 0421-32 51 56, Fax 33 78 177 

PGA Hamburg, Sonderkonto FORUM 

BLZ 200 100 20 

Konto 66 69-209 


dann seine Einstellung zu sich selbst 
und zur Schöpfung um ihn herum be¬ 
einflußen. Das ist nicht Aberglaube, es 
ist ein Mittel, das Gleichgewicht der 
Natur durch Respekt zu erhalten. 

Land ist das größte Geschenk, das 
Gott den Menschen gegeben hat. Er hat 
es nicht einem chief gegeben. Also 
gehörteLandnichtdem chief, es gehörte 
niemandem. Wer immer es benutzte, 
durftees sein eigen nennen. Wenn er es 
nicht mehr benutzte, wurde es jemand 
anderem zugeteilt. Dann kam der weiße 
Mann und sagte: Das ist mein Land-es 

wareinriesigesStückLand-.undauch 

die Früchte darauf gehörten ihm, obwohl 
er sie nicht nutzte und sie verrotteten, 
denn er wollte niemanden sonst auf sei¬ 
nem Land haben. Die Menschen wur- 
en vertrieben oder gezwungen, jähr- 
iche Miete dafür zu zahlen, daß sie da- 
rauf lebten, den Boden beackerten und 
Vieh hüteten. Dann sagteer, ihr dürft 
nicht so viel Vieh auf meinem Land 
weiden. Die Menschen wurden von 
einem Ort zum anderen getrieben. In 
manchen Gegenden wurden sie jähr- 
ich weitergescheucht. Dann wurde 
Land ein käufliches Gut. Die Afrikaner 
durften den Europäern Land abkaufen. 
Aber es konnten sich nur diejenigen 
Afrikaner Land leisten, die schon Teil 
der Geldwirtschaft waren und seit eini- 
ger Zeit schon etwas verdienten. Die 
anderen wurden mitGewalt gezwungen 
arbeiten zu gehen. Die Kopfsteuer wur- 
de angeführt. Also machten sich die 
Menschen jedes Jahr für ein, zwei 
Monate auf die Suche nach Lohnarbeit 
bis sie den Beirag fürdie Steuer zusam- 

MtanundnachHausegfatan. 
len- Natürlich entwickelten sich im 

WO»te sich einen Mantel kaufen, also 

mußte er langer als ein oder zwei Monate 

arbeiten. Die Leute wurden müde von 
dem Hinundher, sie zogen es vor mo¬ 
natlichen Lohn zu kriegen und für 

hKhT aI U an ihrem Arbeitsplatz zu 
bleiben. Aber sie durften nur so lange in 

der jeweiligen Gegend bleiben, wie sie 
dort arbeiteten. Sobald die Anstellung 

zuende ging, mußten sie Weggehen Die 
Landfrage wurde zueinemCip™ 
blem das den Afrikanern viele schlS 

lose Nächte bereitete. ^ 

Es herrschen viele Mißverständnisse 

Tatsä hl R h llC 061 afrikanische n Frau 
Tatsächlich ist es so, daß unsere enga¬ 
gierten Frauen heute fordern, sie mögen 
wie ihre Vormütter behandelt werden. 


Ein Mann war früher erfolgreich auf¬ 
grund seiner Frau. Ein Mann, der im 
Leben vorankam, tat es, weil er sich mit 
seiner Frau beriet. Ein Mann, der sich 
nicht mit seiner Frau berät, kann viel¬ 
leicht heute reich ernten, aber morgen 
wird er mit leeren Händen dastehen. 
Die Frau wird sagen: Unser Kornvorrat 
neigt sich dem Ende zu. Der Mann 
richtete sich nach der Frau. Es gab nicht 
dieses Verprügeln von Frauen, das wir 
heutzutage erleben. Wenn du deine Frau 
in dem Kral deines Vaters schlugst, 
hast du nicht nur deine Frau, sondern 

deinen Vater und deine Mutter geschla¬ 
gen, denn du solls t deine Eltern respek¬ 
tieren und nur Gutes vor ihren Augen 
tun. Dein Vater würde sagen: Tu das 
nicht, sprich mit ihr. Heute wird das 

Dialog genannt-es istkeineneueSache 

und es stammt auch nicht aus Europa. 
Es kommt aus der Erde, auf der wir 
leben. Jetzt, in diesem Augenblick da 
ihr beide hier seid, tut mein kleiner 
Enkel vielleicht etwas Schreckliches, 
aber ich darf ihn nicht schlagen, solange 
ihr im Haus seid. Das zu tun, würde 
bedeuten: Verschwindet von hier, ihr 
seid zu lange geblieben. So streng gmS 
es zu. Es gab ein Sprichwort: Wenn du 
einen Mann siehst, der seine Frau 
schlägt, siehst du einen Feigling. Und 
wenn dein Kind ein gewisses Alter er¬ 
reicht hat, die Jugend, darfst du es über¬ 
haupt nicht schlagen. Du mußt reden, 
beraten, führen, empfehlen. Du mußt 
Gedanken austauschen. Wenn du deine 
Hand hebst, könnte in der Hitze des 
Gefechts dein Kindzurückschlagen, und 
es gab nichts Schlimmeres als das. Das 
würde die ganze Beziehung durch¬ 
einanderbringen. Also hörst du auf, den 
Stock zu benutzen, dein Mund wird zo 
deinem Stock. Nur sehr dumme Eltern 
würden diese Regel mißachten. Indem 
du jemanden schlägst, kannst du nichts 
geradebiegen; - du kannst nur das 
Schlechte verschlimmern.” 

Als wir Mike Matsosha Hove jbeim 
Abschied versprechen, ihm sofort nach 
Erscheinen ein Exemplar des Buches 
zu schicken, sagt er: Ich hoffe, ich hin 
dann noch da. Denn ihr wißt ja, zwischen 
dem Hier und dem Dort gibt es keinen 
Postdienst. 

Ende Februar erscheint im Verlag Freder- 

king und Thaler der Textbildband- 
HÜTER DER SONNE - Begegnungen 
mit den Ältesten Simbabwes von Chen 
jerai Hove und Ilija Trojanow. 


[34] SF 1/96 






Interview mit Mitgliedern 
des Geheimen 
Revolutionären Indigenen 
Komitees (CCRI) der EZLN 

Oventic (Chiapas, Mex.), 
30. Dezember 1995 

Das Interview mit 
Javier (CJ) 

und einem anderen aus 
dem CCRi führte 
David Rosales Aivarez/ 
version 


In den vergangenen Tagen haben wir 
das Verhalten der mexikanischen Re¬ 
gierung gegenüber der EZLN ganz ge¬ 
nau beobachten können. Die Bundes¬ 
regierung hat ihre Truppen in der ge¬ 
samten sogenannten Konfliktzone 
mobilisiert, und die EZLN reagiert da¬ 
rauf nicht etwa mit Waffengewalt, 
sondern mit Theatervorführungen, 
Musik, Poesie, Malerei, eben mit kul¬ 
turellen Aktivitäten. Wollt Ihr damit 
gegenüber der restlichen Welt demon¬ 
strieren, daß ihr Eure Waffen nichtmehr 
anrührt? 

(CCRI): Wir versuchen dies soweit 
es geht, aber die Bundesarmee provo¬ 
ziert uns permanent, indem sie militä- 


neuten Zusammenstößen. 

Glaubt Ihr, daß die mexikanische 
Regierung bereit ist, alle oder zumindest 
einen Großteil Eurer Forderungen auf 
friedlichem Wege zu erfüllen? 

(CCRI): Bisher werden nur immer 
wieder Zusammenstöße provoziert. Um 
eine wirkliche Lösung der Konflikte 
geht es der Regierung nicht. Seit Beginn 
unseres Aufstandes ist keine einzige 
unserer Forderungen erfüllt worden. Mit 
Repression, mit ihren Panzern und ihren 
Waffen droht uns die Regierung, das ist 
ihre Antwort. 

Zwei Jahre sind verstrichen, seit die 


r 

I 


i 

l, 


;l 


rl 


&QS Interview wurde vordem Hinter- 
H r und der Errichtung vier autonomer 
Kulturzentren in Chiapas, den vier 
n fuenAguascalientes y durch die Zapa- 
tistas geführt. Die indianische Bevöl¬ 
kerung verhinderte in diesen Tagen 
spontanem Widerstand das Ein¬ 
dringen der Militärs in die autonomen • 
Gemeinden. Mit großem Spektakel und 
kulturellen Darbietungen feierten die 
Zapatistas den zweiten Jahrestag des 
Aufstandes vom 1. Januar 1994. 

Indenersten Januartagen 96 fand 
in San Cristöbal de las Casas das in - 
ter nationale Forum zu "indianischen 
Rechten und Kultur" statt. SelbstSub- 
COf nandante Marcos kam zu diesem 
einmaligen Ereignis aus seinem Ver¬ 
steck in der Selva Lacandona, um die 
Eröffnungsrede zu halten und mitzu¬ 
diskutieren. 

Erst vor wenigen Tagen einigten sich 
die zapatischen Rebellen und die Re¬ 
gierung auf einen neuen Pakt zwischen 
den indianischen Völkern und dem 
Staat Mexiko. Die beschlossene Auto- 
n °mie soll nicht nurfür Chiapas gelten, 
sondern für alle indianischen Gebiete 
ln Mexiko. Geplant ist auch ein neues 
Gesetz zur Agrarreform in Chiapas. 

Sollten die bisher papiernen Be¬ 
schlüsse tatsächlich in die Praxis 
^gesetzt werden, ist dies eine in 
frte/- und Südamerika einmalige 
Öderation zwischen Staat und unab- 
hängigen indianischen Gemeinden. 

€r Pferdefuß jedoch dürfte die Aus- 
kjommerung der Verfügungsgewalt 
Über die Naturressourcen sein. 

Herby Sachs 





rische Zusammenstöße geradezu her¬ 
ausfordert. Trotzdem werden wir unser 
Möglichstes tun, um auf politischem 
Wege voranzukommen und so die 
Konflikte zu lösen. 


EZLN sich mit Waffengewalt gegen die 
mexikanische Regierung erhoben hat 
und ihre Forderungen nach Frieden, 
Gerechtigkeit , Demokratie und Freiheit 
formulierte . Haben diese Forderungen 
auch heute noch ihre Gültigkeit? 


Heißt das, daß Ihr Eure Waffen nicht 
niederlegen werdet? 

(CCRI): Keineswegs. Wir geben un¬ 
sere Waffen nichtaus der Hand, solange 
unsere Forderungen von der Regierung 
nicht erfüllt werden. Zur Zeit sind wir 
in der Dialog-Phase, und wir sind bereit, 
den Dialog fortzusetzen. Aber wenn 

unsalleMöglichkeiten versperrtbleiben 

und die Regierung weiterhin provoziert, 
entsteht natürlich die Gefahr von er- 


(CCRI): Wir werden unsere For¬ 
derungen nicht ändern. Wir werden wei¬ 
ter für Frieden, Gerechtigkeit, Freiheit 
und Demokratie kämpfen,bis wir unsere 
Ziele erreicht haben. Währenddessen 
demonstriert uns die Regierung ihre 
Doppelzüngigkeit, ihre zwei Gesichter. 

Wie lange noch wollt Ihr auf dem 
eingeschlagenen Weg des Dialoges 
bleiben? 


SF 1/96 [35] 


Foto: David Rosales 











(CCRI): Von Anfang an haben wir 
uns verpflichtet, den Dialog zu führen, 
und wir müssen diese Verpflichtung 
erfüllen. Jetzt umso mehr, da die Zivil¬ 
gesellschaft uns gebeten hat, auf poli¬ 
tischem Wege voranzukommen, unser 
Wort zu halten, solange, bis wir keine 
andere Möglichkeit mehr haben. Denn 
es gibt schließlich Momente, in denen 
wir uns verteidigen müssen. Gerade in 
den letzten Tagen sind wir so dermaßen 
unter Druck gesetzt worden mit all den 
Militärpatrouillen und Truppenbewe¬ 
gungen auf unserem Territorium, wäh¬ 
rend wir hier unsere seit langem ange¬ 
kündigten kulturellen Veranstaltungen 
abhalten. Trotzdem ist die Militärprä¬ 
senz enorm hoch, gibt es Militärpa¬ 
trouillen bei Tag und bei Nacht, kreisen 
Militärflugzeuge über uns. Wir haben 
keine Angriffspläne. Diese Kulturver¬ 
anstaltungen sind sogar ganz entschei¬ 
dend auf unserem Weg zu einem ge¬ 
rechten und würdigenFrieden. MitPro- 
vokation gegenüber der Regierung hat 
das nichts zu tun. 

Im Ausland gibt es viele Menschen, 
die mit der EZLN sympatisieren, ganz 
konkret' auch in Deutschland. Welche 


Botschaft könnt Ihr diesen Leuten 
übermitteln? 

(CCRI): Wir können ihnen sagen 
daß wir unseren Weg weitergehen wer¬ 
den, daß wir unser Wort halten werden 
bis zum Schluß. 


glaubt, wir würden eine militärische 
Offensive vorbereiten, was natürlich 
nicht stimmt. Deswegen lehnen wir auch 
mit aller Schärfe diese massive mili¬ 
tärische Präsenz ab, mit der sie uns 
ein schüchtern, unter Druck setzen und 


Vielleicht noch eine Botschaft? 

(CJ): Ja. Wir sind mehr als bereit 
dazu über unsere Forderungen weiter 
mit der Regierung zu reden. Aber wir 
sehen und hören auch die Regierenden 
wie sie von Frieden, von Dialog reden’ 
sich gleichzeitig aber immer intensiver 
damit beschäftigen, uns unter Druck zu 
setzen und zu provozieren. Während- 

fHprü" befinden wir uns ruhig und 
friedlich in unserem Teiritorium, auf 

wollir L r and ’, 10 UnS6ren Häusem und 
wollen auf politischem Wege weiter- 

t° h “' Wk bereiten keine militäri¬ 
sche Offensive vor, sondern bauen die¬ 
sen Ort hierauf, einen Ort für kulturelle 
Veranstaltungen, bei denen wir unsere 
Erfahrungen und unsere Kultur mit all 
jenen teilen können, die z u unshi&rher 
ommen, mit der mexikanischen Be- 

D« ?L 8 ' mit ziv %eseHschaft 
Das haben wir vor., Die Regierung 


provozieren wollen. Sie wollen, daß 
wir den Dialogprozeß abbrechen. Aber 
diesen Gefallen werden wir ihnen nicht 
tun. Wir sind bestens für den Dialog 
gerüstet. 

(CCRI): Und noch etwas, was wir der 
nationalen und internationalen Zivil¬ 
gesellschaft oder allen Solidarischen 
sagen können: Im Moment hätte es für 
uns keinen Nutzen, zu den Waffen zu 
greifen, dies ist nicht die richtige Zeit 
dafür. Wir wünschen uns, daß sich alle 
mit uns solidarisieren, unseren Kampf 
auf ihre Art und Weise unterstützen. 
Und wir senden einen Gruß dorthin 
nach Deutschland, im Namen des Ge¬ 
heimen Revolutionären Indigenen Ko¬ 
mitees aus den Bergen von Chiapas. 
Vielen Dank. 


Übersetzung: Dorothea Schütze/versioü 








SF hat bereits zwei längere Artikel über 
die US-amerikanischen "Neonazis und 
Abtreibungsgegner " (4195) und über die 
ÜS-Milizen-Bewegung (3195) veröf¬ 
fentlicht. Wir haben uns, trotz einiger 
Wiederholungen (zwei, drei Kürzungen 
haben wir vorgenommen, um sie nicht 
a usufern zu lassen) für den Abdruck 
dieses Artikels von Philip Agee ent¬ 
schieden, weil er die ganze Bandbreite 
der rechtsradikalen Bewegung in den 
USA vor stellt und so zu einem genaueren 
Überblick kommt. Das Mehr an Infor- 
Mationen schien uns das nochmalige 
Abdrucken einiger bekannter Passagen 
zu rec htfertigen. SF-Red. 


Unter den vielen Artikeln überdas Ende 
des 2 .Weltkrieges, die im August um 
die Zeit des 50 Jahrestags der Kapitu¬ 
lation Japans erschienen, wurde m ei¬ 
nem der damalige US-Präsident Harry 
Truman zitiert, der die Kapitulation über 
das staatliche Radio verkündet hatte. 
Feierlich proklamierte Truman, daß nun 
Nazismus und Faschismus ein für alle 
Mal von der Erde ausradiert worden 

seien • 

In seiner Euphorie über das Kriegs¬ 
ende irrte er sich gewaltig. Richtiger 
lag wahrscheinlich der französische 


von Philip Agee 

Sozialhilosoph Michel Foucault, der 
1972 schrieb: 

“Der strategische Feind ist der Fa¬ 
schismus... der Faschismus in jedem 
von uns, in unseren Köpfen und in un¬ 
serem alltäglichen Verhalten, der Fa¬ 
schismus veranlaßt uns Macht zu lieben, 
genau das herbeizuwünschen, was uns 
beherrscht und ausbeutet.” 

Mir scheint, daß seinem Verständnis 
nach der Faschismus (oder etwas 
Gleichbedeutendes) eines der vielen 
dunklen, verborgenen Abgründe jeder 


SF 1/96 [371 



























menschlichen Persönlichkeit darstellt. 
Es ist wohl keine Übertreibung zu be¬ 
haupten, daß der Faschismus, weit da¬ 
von entfernt nach dem Ende des 
2. Weltkriegs zu verschwinden, nach wie 
vor allgegenwärtig ist - und das in einer 
Reihe von Ländern. So wie früher exi¬ 
stieren heutzutage von Ort zu Ort unter¬ 
schiedliche Variationen des Faschis¬ 
mus, aber sie teilen alle ganz bestimmte 
Auffasungen und Bräuche. Das Wort 
“Faschismus'’ ist übrigens den lateini¬ 
schen und italienischen Wörtern für 
"Bündel” entlehnt. Es wurde zuerst 
politisch nach dem 1.Weltkrieg von 
Mussolini’s faschistischer Partei in 
Italien benutzt, deren Symbol ein um 
eineAxtgewundenesFeuerholz-Bündel 
darstellt, das sowohl Stärke, als auch 
Einheit demonstrieren sollte. 

Mussolini und andere frühere Fa¬ 
schisten der Zeitnach dem 1. Weltkrieg, 
eigneten sich die Lehren der ultrakon¬ 
servativen Schriftsteller des ^.Jahr¬ 
hunderts an, wie die des Italieners 
Vilfredo Pareto und Gaetano Mosca, 
die “Laissez-faire”-Ökonomien und die 
Wichtigkeit der Eliten in einer sozialen 
Ordnung betonten. Weitere ideologi¬ 
sche Inspirationen kamen vom franzö¬ 
sischen Grafen Joseph Gobineau, der 
die Überlegenheit einer arischen Rasse 
in seinem 1853 verfaßten Werk Essay 
über die Ungleichheit der menschlichen 
Rasse postulierte und vom Engländer 
Houston Stewart Chamberlain, dem 
Schwiegersohn Wagners, der seinerseits 
ein führender Apologet der “rassischen 
Überlegenheit” der Deutschen und der 
“Minderwertigkeit der Judn” war. Und 
nicht zu vergessen, Friedrich Nietzsche 
mit seinen Konzepten der “natürlichen 
Aristokratie”, Wille, Kraft, Stärke, der 
sogenannten “Herrenmoral” und des 
“Übermenschen”. 

Bezeichnend für die faschisüschen 
Anschauungen nach dem 1.Weltkrieg 
und heutigen faschistischen Ideen ist 
die weitestgehend gemeinsam geteilte 
Auffassung hinsichtlich der Ablehnung 
aufklärerischer Lehren und der franzö¬ 
sischen Revolution; der Konzepte von 
Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, 
sowie der Deklaration der Bürger-und 
Menschenrechte, das heißt humaner und 
zivilerRechte, eine säkularen Weltohne 
Staatsreligion aber mit der Möglichkeit 
einer freien Religionwahl, als auch hin¬ 
sichtlich der Ablehnung dessen, was 
wir heute als liberale Demokratien in 


den Vereinigten Staaten und Westeuro¬ 
pa bezeichnen. Und natürlich opponiert 
ier Faschismus auch gegen unabhän¬ 
gige Arbeiterbewegungen, Gewerk¬ 
schaften und jede Form von mensch¬ 
lichem oder egalitärem Sozialismus. 

Im Gegensatz hierzu favorisiert der 
Faschismus den Nationalstaat, dem alle 
individuellen Bedürfnisse untergeord¬ 
net werden sollen, im Zusammenhang 
mitdem Ruf nach einem starken Führer, 
der die Interessen der Nation personi¬ 
fiziert. Eine Diktatur ohne demokra¬ 
tische Zwänge wurde glorifiziert und 
war schließlich auch um des Krieges 
willen gegen die inneren und äußeren 
Feinde unvemeidlich. Moral wurde 
nicht rechtlich oder religiös definiert 
sondern als etwas, was den Interessen 
des Staates dienlich war. Rassische 
Überlegenheit und Antisemitismus, 
gestützt auf den Glauben, daß Juden, 
obgleich sie als minderwertig katego¬ 
risiertwurden, danach streben, die Welt¬ 
herrschaft zu erringen, sind ebenfalls 
zentrale Bestandteile des Faschismus. 
Nicht zu vergessen, daß die Frauen den 
Männern untergeordnet sein sollten, und 
Kinder für den Staatsdienst heranzu¬ 
züchten sollen. Menschen mit homo¬ 
sexuellen Neigungen gelten als Feinde 
der Gesellschaft und des Staates. 

In den Vereinigten Staaten existieren 
heute eineReihe von politischen Bewe¬ 
gungen, die einige oder alle prinzipiellen 
Merkmale des Faschismus teilen bzw. 
verfechten. Zusammen bilden sie ein 
sehr kompliziertes Gefüge, das einem 
ständigen Wandel unterliegt, das u.a. 
wegen ihrer doppelten Mitgliedschaften 
und Programme mit den selben para¬ 
noiden Auffassungen, an Einfluß zu- 
oder abnimmt. Ähnlich der ersten Ge¬ 
neration der Faschisten der 20er Jahre, 
glauben sie, daß sie von Feinden ange¬ 
griffen werden, ihr Leben in Gefahr sei 
und daß sie sich der Zerstörung ihrer 
Organisationen und ihrer Glaubens¬ 
vorstellungen durch Gegenangriffe 
widersetzen müssen. Die Liste ihrer 
Feindeist bekannt: Liberale und andere, 
die sich für Chancengleichheit und eine 
multikulturelle Gesellschaft einsetzen, 
das wohlfahrtsstaatliche System, das 
auf die bedürftige Menschen ausge¬ 
richtet ist, Schwarze, Farbige, Juden, 
Sozialisten, Anarchisten und Kommu¬ 
nisten, Schwule undLesben, Ausländer, 
die sich unterschiedlich kleiden, reden 
und glauben. Im Allgemeinen kommen 


[38] SF 1/96 










s ' e > was den wirtschaftlichen Hinter¬ 
grund angeht, aus den mittleren-und 
Un teren Einkommensschichten und 
mißtrauen der Bundesregierung und 
rhren internationalen Programmen, wie 
Partizipation in den Vereinten Na- 
honen, in Verbindung mit multinatio¬ 
nalen Aktiengesellschaften, mal abge¬ 
sehen vom prinzipiellen Mißtrauen ge¬ 
genüber der US-Regierung. Noch vor 
allen anderen Gegnern betrachten sie 
nie Washingtoner Regierung als ihren 
größten Feind. Diese Organisationen 
u nd Bewegungen, von denen sich einige 
als überzeugte Christen sehen (andere 
^iederum nicht), haben sich in den 
Peinigten Staaten auf dem Hinter¬ 
grund einer extrem zunehmenden öko¬ 
nomischen Ungewißheit und Unsicher- 
oll) entwickelt. Die Hauptursache be- 
Sle ht in der Globalisierung der Öko¬ 
nomie, der neuen Technologien und im 
xport von Millionen Arbeitsplätzen 
jns Ausland, um durch billigere Ar- 
eitskräfte die Profite zu maximieren, 
m stärksten von dieser Entwicklung 
c lroffcn sind dabei Menschen mit 
geringer Bildung und Begabung, da- 
Wnter auch viele, denen - im Gegensatz 
* u den ersten Generationen nach dem 
^Weltkrieg - trotz ihrer harten Ar- 
oeitsjahre jegliche Lebensperspektive 
fohlt. 

Zahlreiche Statistiken belegen diesen 
Prozeß, wobei die Reichen ihr Ein¬ 
ommen erhöhen konnten, der Einkom- 
mensanteil der Bevölkerungsmehrheit 
dagegen real abnahm. Beispielsweise 
■eien, wenn man die Inflation mit be¬ 
rücksichtigt, während der vergangenen 
0 Jahre die Löhne der Arbeiter in der 
roduktion um 20% u’.'d die der jungen 
Männer mit nur gerillter Bildung um 
30%. Di e mittleren Gehälter liegen 
oute niedriger als der Durchschnitt in 
den 60er Jahren. Aber in derselben Zeit 
konnten die am besten Verdienenden 
Ihren Anteil beträchtlich erhöhen. Im 
■Zeitraum von 1977 bis 1989 besaßen 
1% der reichsten Familien 72% der 
gesamten Gewinne des nationalen Ein¬ 
kommens, während die Ärmeren einen 
Anteil von 60% verloren. Heute besitzen 
c a 1 % der Amerikaner 40% des Reich¬ 
tums des Landes und 10% der Familien 
besitzen 70%. Kein Zufall also, daß die 
oberen 20% der Familien abzüglich der 
Steuern über ein höheres Einkommen 
verfügen, als die übrigen 80%. Offiziell 
leben 15% der Bevölkerung in Armut, 
obwohl der wirkliche Prozentsatz wohl 


höher liegen dürfte. Schließlich leben 
22% der amerikanischen Kinder in Ar¬ 
mut, viermal soviel wie in Westeuropa. 
Der Prozeß der kontinuierlich zuneh¬ 
menden Konzentration von Reichtum 
undEinkommen indenHänden weniger 
setzt sich heute weiter fort. Im allge¬ 
meinen demontierte der Kongreß, der 
vom rechten Flügel der republikani¬ 
schen Partei kontrolliert wurde, in den 
insgesamt 60 Jahren das Wohlfahrts¬ 
system im großen Stil, das ursprünglich 
für die Bedürftigen der Gesellschaft 
konzipiert worden war. Ein unwider¬ 
legbares Ergebnis hierfür ist die Tat¬ 
sache, daß sich die Vereinigten Staaten, 
gemessen an den sozialen und ökono¬ 
mischen Rahmenbedingungen, schlie߬ 
lich zu dem entwickelt haben, was 
allgemein unterdieKategorieeines sog. 
“Dritte Welt” - Land fallen könnte. 

Ein weiteres Ergebnis ist der Rassis¬ 
mus, der lange Zeit das Land gespalten 
hatte und eine Quelle des Fanatismus 
und des Hasses darstellte; momentan 
sprechen die Anzeichen dafür, daß der 
Rassismus sich eher noch verstärken, 
als abnehmen wird. Ein Großteil der 
weißen Bevölkerung Amerikas lebt in 
ständiger Angst vor schwarzen Men¬ 
schen. Da sie Kriminalität und Gewalt, 
nur von Schwarzen und nicht von Weis- 
sen ausgehen sehen. Andere Bedro¬ 
hungen stellen für sie junge Schwarze 
mit Kindern dar, die auf Sozialhilfe 
leben, in ihren schwarzen Klubs und 
Drogencliquen verkehren oder Rap- 
Musik hören. Dies Bedrohung nehmen 
sie auch bei Immigranten aus sog. 
“Dritte Welt”-Ländem und bei schwu¬ 
len und lesbischen Wohngemeinschaf¬ 
ten wahr. 

Noch ein weiteres Resultat ist, daß 
die besonders gering gebildet- und 
begabten Weißen, Opfer dieses Pro¬ 
zesses geworden sind, völlig entfremdet, 
verwirrt und geladen nach Sünden¬ 
böcken Ausschau halten, denen sie die 
Schuld ihrer Misere zuweisen können. 
Und anstatt zu begreifen, daß auf diese 
Art und Weise nunmal der amerika¬ 
nische Kapitalismus prinzipiell funk¬ 
tioniert, machen sie die Bundesregie¬ 
rung, die beiden politischen Parteien, 
die Banken und die großen Aktien¬ 
gesellschaften dafür verantwortlich. 
Dabei schließen sie ein Konglomerat 
vieler Millionen Mitläufer ein, die reif 
für faschistische Ideen geworden sind 
und vorallem den Organisationen, die 
ihre Ideen verfechten. 










Welche Organisationen 
sind dies im einzelnen? 

Um der näheren Betrachtung willen 
habe ich diese Gruppen in vier Kate¬ 
gorien unterteilt, die sich, wie ich bereits 
erwähnte, z.T überschneiden undeinem 
ständigen Wandel unterliegen. Es sind 
dies 

1. ) die religiöse Rechte und ihre Be¬ 

mühungen die Republikanische 
Partei zu vereinnahmen, 

2. ) die sogenannte “Liberty Lobby” 

und eine Reihe weiterer Organi¬ 
sationen, die sich zusammen mit 
der Bewegung “Holocaust denial” 
gebildet hat. 

3. ) die Bewegung “Christian Identity” 

und die mit ihrassoziierten Gruppen, 
wie “die Aryan Nations”, “ The 
Order”, “Posse Comitatus”, die 
sogenannte “Patriotische Bewe- 
8 un 8 > “Paramilitary Surviva- 
list”, die privaten Milizen und 

4. ) Der “Ku Klux Klan», “Skin- 

heads”, “White Aryan Resistan¬ 
ce” und die neo-nazistische NSDAP 
-AO. 

Alle diese Organisationen haben in den 
vergangenen Jahren viel Aufmerksam¬ 
keit auf sich gezogen. 

Die heutige religiöse Rechte, auch 
unter der Bezeichnung “christliche 
Rechte” oder “neue christliche Rechte” 
bekannt, ist als derzeitige Bewegung 
von der früheren, sogenannten “Evan- 
gelicaP-Bewegung, deren Wirken sich 
vom letzten Jahrhundert bis in die 50er 
und 60er Jahre zurückdatieren läßt, zu 
unterscheiden. 

Diese Zeiträume beziehen sich auf 
ein weites Spektrum konservativer, 
evangelistischer religiöser Organisa¬ 
tionen, die in der Hauptsache pro- 
testanisch waren und politische 
Bewegungen förderten oder sich in 
ihnen engagierten, um ihre religiösen 
Auffassungen der übrigen Gesellschaft 
mitzuteilen. Kurz, ihre Überzeugungen 
drehen sich um eine grundsätzlich 
oppositionelle Haltung gegenüber dem 
Pluralismus, das heißt auch was die 
Ablehnung von gleichem Status der 
vielen unterschiedlichen Religionen 
angeht. Sie lehnen die Unterschied¬ 
lichkeit politischer und kultureller 
Anschauungen und deren Praxis, sowie 
die traditionelle Seperation von Kirche 
und Staat in den USA strikt ab. Sara 
Diamond hat in ihrem Buch Spiritual 


Warfare, in Übereinstimmung mit den 
theologischen Positionen, die Unter¬ 
schiede innerhalbderreligiösen Rechten 
herausgearbeitet. 

Nach Diamond beinhaltet der Begriff 
“evangelical” ein weites protestanti¬ 
sches S pektrum, daß darauf ausgerichtet 
ist, Leute zu bekehren und Ungläubige 
zu konvertieren. Innerhalb des Evange- 
lismus gibt es zwei Hauptlager: die¬ 
jenigen, welche zu der Sekte gehören, 
die das Lesen der Bibel nicht nach¬ 
drücklich betonen und die Literaten, 
die ihrerseits wiederum in zwei Haupt¬ 
gruppen unterteilt sind: Die Funda¬ 
mentalisten und die sogenannten “Pen- 
tacostals”. Beide wenden die Schriften 
auf alle Lebensfragen an. Gewöhnlich 
sind die Fundamentalisten mit den 
baptistischen Kirchen assoziiert, die 
wiederum lehren, daß die Fähigkeit 
Heilungswunderzu vollbringen und “in 
Zungen” zu reden in den neutestamen¬ 
tarischen Zeiten enden würde. Auf der 
anderen Seite glauben die “Penta- 
costals”, daß die im zweiten Kapitel des 
Neuen Testaments beschriebenen Hei¬ 
lungswunder Für die modernen Christen 
genauso gelten würden. 

Es gibt schätzungsweise 30Millionen 
amerikanische “Evangelicals”, eine 
enorm große Anzahl, bei denen die 
po/j'/Lc/z-religiöse Rechte danach strebt, 
Menschen für ihre Programme zu 
rekrutieren. Die größte und mit Abstand 
wichtigste Organisation der religiösen 
Rechten ist die “Christian Coalition”, 
die 1989 von Pat Robertson nach seiner 
mißglückten Prasidenschaftskampagne 
ein Jahr zuvor gegründet wurde. Die 
“Coalition” hatte einen sensationellen 
Zuwachs, so daß bereits sechs Jahre 
später,also 1995,dieZahl der Mitglieder 
auf 1.7 Millionen geschätzt wurde. Sie 
sind in 1700 lokalen Untergruppen 
landesweit organisiert. 

Die Besucherzahlen ihrer jährlichen 
“Road to victory”-Konferenz sind von 
800 im Jahr 1991 auf40001995 gestie¬ 
gen. Unter den Regierungsprogramm, 
die sie befürworten, zählen ein verfas¬ 
sungsmäßiger Gesetzesentwurf zur 
Abschaffung der Abtreibung, die Rück¬ 
nahme der Frauenrechte, über ihrLeben 
selbstbestimmt zu entscheiden, die 
Wiedereinführung von christlichen 
Gebeten in öffentlichen Schulen, ohne 
Rücksicht darauf, ob dadurch Nicht- 
Christen und Atheisten verletzt werden 
könnten. Außerdem fordern sie einen 



[40] SF 1/96 

















Regierungsgutschein, mit dem Eltern 
die Gebühren für Privatschulen zahlen 
können, um dadurch zu vermeiden, daß 
ihre Kinder auf weltliche Schulen, das 
heißt nicht-christliche Schulen mit 
Schülern die keine Weißen sind, 
schicken zu müssen. Und schließlich 
plädieren sie dafür, alle Bücher, die 
ihren Glauben angreifen, aus Schulen 
und öffentlichen Büchereien zu ent¬ 
fernen. „ 

Während die Ziele der Coalition 
national definiert sind, funktioniert ihr 
System auf lokaler Ebene. Erfolgreich 
waren sie vorallem durch die freiwillige 
Unterstützung der Landbevölkerung, 
ihre Mitglieder oder Anhänger m 
örtliche Mitbestimmungsgremien zu 
wählen. Durch ihre Tätigkeiten in 
lokalen und staatlichen Bereichen, be¬ 
absichtigen sie die republikanische 
Partei unter ihre Kontrolle zu bekom¬ 
men Sie dominieren bereits die zen¬ 
tralen staatlichen Gremien der Repu¬ 
blikanischen Partei in mindestens 30 
der 50 Bundesstaaten. Während des 
Wahlkampfs von '94 verteilten sie etwa 
30 Millionen Wahlempfehlungen ihrer 
600 Kandidatien für Ämter auf re¬ 
gionaler, staatlicher- und auf Kongre߬ 
ebene, wobei 60% von ihnen gewannen. 
Zusammen mit der ultarechten “Na¬ 
tionalen Waffenvereinigung” waren 
sie in der Tat ein sehr wichtiger, wenn 

nichtsogarbestimmenderFaktor dafür, 

daß der Kongreß seit 1994 in die Hände 
des rechten Republikanerflügels ge¬ 
langte. Hier nun einige Aussagen des 
“Coalition”-Gründers und Führers Pat ' 
Robertson, dessen Femsehnachrichten 
und Redebeiträge zweimal täglich über 
sein eigenes Kabel-Netzwerk ausge¬ 
strahlt werden und schätzungsweise 58 
Millionen Haushalte erreichen. 

Übrigens hatte Robertson sehr enge 
Kontakte zu führenden Persönlichkeiten 
der als “Reconstructionist of Domi¬ 
nion theoiogy” bekannten Vereinigung. 

Sie lehren, daß das rechtmäßige Ge¬ 
setzbuch durch das Alte Tetament als 
Grundlage einer zivilen Rechtsprechung 
ersetzt werden sollte. Ihre Verfechter 
fordern die Todesstrafe für solche 
sogenannten “Verbrechen”, wie Ehe- 

bruch,Homosexualität, Blasphemie und 

die Verbreitung falscherreligiöser Leh¬ 
ren. Und dies - wohlgemerkt - in einem 
Land wie Amerika und nicht etwa im 
Iran. 

Robertson’s politische Ansichten 
beginnen mit dem Glauben an die Ver¬ 


fassung der Vereinigten Staaten von 
1789, die eine “christliche Ordnung für 
eine Selbstregierung durch Christen” 
geschaffen habe. Die Idee der Trennung 
von Kirche und Staat ist für ihn “eine 
Lüge der Linken”. Über die Nicht- 
Christen schrieb er 1986: 

“Es ist interessant, daß Termiten 
nichts aufbauen, und die großen Erbauer 
unserer Nation nunmal alle Christen 
gewesen sind, weil Christen den 
Wunsch haben etwas aufzubauen... Die 
Menschen, die in unsere Institutionen 
kamen sind in der HauptsacheTermiten. 
Sie sind dabei, die von Christen auf¬ 
gebauten Einrichtungen zu zerstören, 
ob dies in Universitäten, Regierungen 
oder in unseren Traditionen vonstatten 
geht... che i ermiten sind jetzt unter ihrer 
Obhut... und die Zeit ist gekommen für 
eine fromme Ausmerzung.” 

Ich weiß nicht, ob sich Hitler als er 
über die Juden sprach nicht exakt ge¬ 
nauso ausdrückte - ich denke jedenfalls, 
daß man einen leichten Vorgeschmack 
von dem, was ein Robertson da vom 
Stapel läßt, bekommt. 

Über den Feminismus und der Rolle 
der Frauen schrieb Robertson, daß die 
“FermnistischeTagesordriung” Frauen 
dazu ermutigen würde, " ihre Kinder 
umzubringen” und " Anwendung von 
Hexerei” darstellen würde. Über die 
phillipinische Präsidentin Corazon 
Aquino erzählte er: “Ich glaube ehrlich 
gesagt nicht, daß Corrie Aquino zu 
regieren vermag...sie ist die Ehefrau 
ihres erschossenen Mannes, im Grunde 
genommen eine Hausfrau...”. Über 
Abtreibung sagte er im Fernsehen " Ein 
Gemetzel! 1.5 Millionen Babies. Das 
kann sich ja mit dem Holocaust von 
Adolf Hitler messen, wenn ihn nicht 
sogar überbieten.” Lesbisch/schwule 
Lebensformen bezeichnete er als 
“Krankheit” und beschuldigte solche 
Lebensgemeinschaften als “Sodomi- 
ten”, die danach trachten “ihren Le¬ 
bensstil in Schulen , Militär, Regierung, 
Geschäftswelt und Kirche durchzu - 
setzten” 

Paranoia und Verfolgungswahn ist 
ein Kernelement von Robertsons’ 
Glauben, das allen faschistischen 
Denkarten gemein ist. Ein Jahr nach 
Gründung der “Coalition” von 1990 
schrieb Robertson: 

“ Zu viele Menschen, Christen können 
mit dem Zeitgeist nicht Schritt halten. 
Unsere Proteste und Warnungen sind 

SF 1/96 [41] 















ein Ärgernis. Wir sind die Opfer der 
Verachtung, der Verleumdung und des 
Hohns. Bald, fürchte ich, könnten unsere 
Proteste ohne Gottes Intervention un¬ 
akzeptabel erscheinen. Wenn das pas¬ 
siert und es wird passieren, können wir 
davon ausgehen, daß uns der gleiche 
Umgang wiederfahrt, wie den Juden in 
Nazi-Deutschland.” 

Und an anderer Stelle sagte er im 
Fernsehen: 

“Genauso wie Nazi-Deutschland mit 
den Juden verfahren ist, so liberal verhält 
sich Amerika momentan gegenüber den 
“evangelical”-Christen. Da gibt’s kei¬ 
nen Unterschied. Es ist dasselbe. Es 
passiert wieder überall. Es sind der 
demokratische Kongreß, die liberal 
beeinflußten Medien und die Homo¬ 
sexuellen, die alle Christen vernichten 
wollen.” 

Anderswo griff er die vorherrschen¬ 
den sozialen und poli tischen Ordnungen 
an, was von der religiösen Rechten auch 
als “säkularer Humanismus” bezeichnet 
wird: 

“Die Machtzentren unserer Kultur - 
Regierung, Erziehungswesen, Medien, 
Geschäftswelt etc. sind heute fest in 
den Händen der säkularen Humanisten, 
die jegliche Anstrengung darauf ver¬ 
wenden, die auf der Bibel gegründeten 
Grundlagen des Christentums in unserer 
Gesellschaft zu erniedrigen und auszu¬ 
löschen.” 

Und das Allheilmittel? Nun einige 
Statements von Robertson zur republi¬ 
kanischen Partei: 

“Wir sehen es so, daß eine aktive 
Mehrheit der Republikanischen Partei 
in die Händeder “Pro-Family”-Christen 
im Jahr 1996 oder früher gelangen wird. 
(Die Insider ziehen es vor, daß “Pro- 
Family” lieber als “religiöse oder 
christliche Rechte” bezeichnet wird). 
Natürlich wollen wir das Weiße Haus 
in den Händen der “Pro-Farn ily "-Chri¬ 
sten sehen, zumindestens im Jahre 2000 
oder bereits früher, wenn es uns Gott 
erlaubt.” 

Und 1991 schrieb Robertson: 

“Wenn wir auch weiterh in so arbeiten, 
trainieren und organisieren, wird sich 
die “Christian Coalition” am Ende die¬ 
ses Jahrzehnts zur stärksten politischen 
Organisation in Amerika entwickeln.” 

Angesichts des phänomenalen 
Wachstums der “Coalition” und ihrer 
Schlüsselrolle bei der Machtübernahme 
des rechten Flügels der Republikaner 

[42] SF 1/96 


im Kongreß, bei den Wahlen von 1994 
muß man ihren Erfolg eingestehen. Und 
man kann, wenn auch nur im entfern¬ 
testen Sinn, gewisse Parallelen zwischen 
der Weimarer Republik und dem heu¬ 
tigen Amerika feststellen. Schließlich 

kam Hitler nicht zuletzt im Zuge legaler 

und parlamentarischer Mittel an die 
Macht. 

Abgesehen von der “Christian Coa- 
lition’’ existieren weitere, durchaus 
einflußreicheOrganisationen innerhalb 

der religiösen Rechten, die im Rahmen 
des legalen Wahlsystems arbeiten, um 
ihre ultra-konservativen Dogmen zu 
verbreiten. Sie arbeiten in Bereichen, 
wie der Kongreß-Lobby und unterstüt¬ 
zen ihre Wunschkandidaten in Wahlen. 
Sie versuchen ihre politischen Ziel¬ 
setzungen kontinuierlich umzusetzen 
und protestieren beispielsweise gegen 
Abtreibung vor Frauenkliniken und 
greifen feministische und schwule Bür¬ 
gerrechtsbewegungen an. 

Nun zur zweiten Gruppierung inner¬ 
halb des rechtsextremen Sammel¬ 
beckens der Vereinigten Staaten: Da 
wären zum einen die sogenannte “Li¬ 
berty Lobby” und die Bewegung, die 
den Holocaust leugnet bzw. ihre Be¬ 
deutung herunterspielt. 

“Liberty Lobby” ist der Name einer 
Neonazi-Organisation, mit Sitz in Wa¬ 
shington D.C. 1957 von einem anti¬ 
semitischen Autor, Willis Carto, ge¬ 
gründet, entwickelte sie sich aus der 
anfänglichen Carto-Organisaüon, mit 
dem Namen “Liberty und Property” 
und seinem Magazin "Right" heraus. 
Carto gründete die Organisation mit 
dem Ziel, Druck auf den damaligen 
Kongreß für eine ultra-rechte Gesetz¬ 
gebung auszuüben, um als Vermittler 
zwischen dem Kongreß und den von 
Carto als “Patrioten” bezeichnten 
Fl ügel zu wirken. Er gründete die Orga¬ 
nisation auch deshalb, um sich bei der 
Forschung und der Veröffentlichung 
von Schriften, im Interesse der Kon¬ 
servativen, zu engagieren. Seine ideo¬ 
logischen Positionen manifestieren sich 
in der Kontinuität nazistischer und anti¬ 
semitischer Bewegungen, während der 
Zeit zwischen den zwei Weltkriegen, 
die auch unter der Bezeichnung “Na- 
tivism” bekannt geworden ist. Dieser 
Bewegung gehörte übrigens auch Henry 
Ford, Gründer der Ford Motoren Ge¬ 
sellschaft, als führende Persönlichkeit 
an. 


Die “Lobby” war während dieser 
Jahre sehr erfolgreich, und ihre bedeu¬ 
tendste Veröffentlichung, "The Spot¬ 
light" hatte eine Auflage von ca. 

100.000 bis 300.000Exemplaren. Carto 
schuf eine Reihe von Tochtergesell¬ 
schaften, eine davon war die "Noontide 
Press , mit Sitz in Los Angeles. Diese 
Gesellschaft publiziert hauptsächlich 
Bücher zur Eugenik, zu Rassismus, 
Antisemitismus und Holocaust-Leug¬ 
nungen. Ein weiterer Zweig dieser 
Medienlobby ist das “Sun Radio Net¬ 
work" mit Zugang zu 1 130 Radio- 
S tationen, das eine täglich zweistündige 
Talk-Show der “Lobby” namens "Ra¬ 
dio Free America" sendet. 

Eine andere Schöpfung der “Liberty 
Lobby” ist das 1978 gegründete Insti¬ 
tute for Historical Review”, mit Sitz in 
Torrance, California. Das Institut ist 
wahrscheinlich eine der wichtigsten 
Säulen der Neonazi-Bewegung, da es 
zum weltweit größten Förderer und 
Verteiler der Propaganda der “Leug¬ 
nung des Holocaust” durch das “Journal 
of Historical Review” wurde und Kon¬ 
ferenzen dieser Art sponserte. 

Ein weiterer Ableger der "Liberty 
Lobby" ist die “National Alliance", 
dieaus der 1968 gegründeten "National 
Youth Alliance" hervorging, die damals 
das Ziel verfolgte, die linke Studenten¬ 
bewegung der 60er Jahre zu bekämpfen. 
Sie ist als paramilitärische Organisation 
einzuordnen, ähnlich den Nazi-Braun¬ 
hemden der 20er Jahre, die Gewalt be¬ 
nutzten, um Linke und”Black-Powcr”- 
Gruppen an den Universitäten zu zer¬ 
schlagen. Sie spaltete sich allerdings 
recht früh und einer ihrer Flügel ent¬ 
wickelte sich zur “National Alliance ", 
unter der Führung von William Piercc. 
Pierce ist ein Uni-Physikprofcssor und 
ehemaliger Beamter der amerikanischen 
Nazi-Partei. 1978 schrieb Pierce "The 
Turner Diaries", eine Erzählung, die in 
der Zukunft spielt, in der eine Gruppe 
Weißer einen Rassenkrieg gegen die 
Bundesregierung beginnt; um eine aus¬ 
schließlich weiße Nation zu errichten. 
Das Buch wurde schließlich zur Bibel 
der extrem rechten paramilitärischen 
Organisationen erklärt und blieb es 
fortan. Nach Ansicht amerikanischer 
Schriftsteller ist es sehr gut möglich, 
daß das Bombenattentat auf das Bun¬ 
desministerium in Oklahöma City vom 
April, aufgrund der literarischen In¬ 
spiration Pierces zustande gekommen 







ist, zumal das Buch " The Turner Dia - 
ries” die Lieblingslektüre Timothy Mc 
Veigh’s gewesen ist, der an dem Ver¬ 
brechen beteiligt war. 

In ihrem Buch über das Thema 
"benying the Holocaust” zeichnet 
freborah Lipstadt die intellektuelle Be¬ 
rgung zur Rettung und Rechtfertigung 
des Faschismus und Nazismus auf und 
entlastet Hitler, sein Wirken hätte erst 
na °h dem Ende des 2.Weltkrieges be¬ 
gonnen. Die allerdringlichste Aufgabe 
bestand natürlich in der Relativierung 
nnd Leugnung des Holocaust. Zwei der 
frühesten Leugner waren die Franzosen, 
Maurice Bardeche, ein Faschist und 
Nazi-Kollaborateur und Paul Rassinier, 
e * n ehemaliger Kommunist und “Resi- 
stance-”Kämpfer, der in Buchenwald 
inhaftiert war. Beide behaupteten, daß 
die Beweise für die Existenz von Kon¬ 
zentrationslagern gefälscht und über¬ 
trieben seien. Rassinier’s Schriften 
w urden in den USA in den 70em von 
der "Noontide Press” der “Liberty 
Lobby” herausgegeben. 

1952 löste W.D. Herrstrom in den 
Vereinigten Staaten die Bewegung der 
“Holocaust Leugner” mit einem Ar¬ 
tikel aus, in dem er konstatierte, es habe 
fakitsch keinen Holocaust gegeben, da 
ja schließlich Millionen Juden, die 
angeblich getötet worden waren, heute 
auf Amerikas Straßen rumspazieren 
würden. Ihm folgte in den 50er und 
60er Jahren ein Schriftsteller-Zirkel. 
Besonders erwähnenswert ist in diesem 
Zusammenhang der Historiker und 
Germanophile Harry Eimer Barnes, der 
sehr stark von Rassinier beeinflußt 
wurde. Einen weiteren wesentlichen 
Einfluß hatte David Hoggan, auch ein 
Geschichtsprofessor, der "The Myth of 
the six Million” verfaßte, das 1969 von 
“Noontide Press” publiziert wurde. In 
den 70er Jahren wurde Austin App, ein 
Englischprofessor und Sohn deutscher 
Immigranten, der lange Zeit Nazi¬ 
deutschland verteidigt hatte, mit seinem 
Buch "The Six Million Swindel”, zu 
einer führenden Persönlichkeit der 
“Holocaustleugner”. In seinem Buch 
formulierte er die Prinzipien dieser 
Leugnung, auf dessen Grundlage Carto 
das " Institute of Historical Review” 
gründete. Auf App folgte Arthur Butz, 
Professor an der Northwestern Univer- 
sity, der "The Hoax of the Twentieth 
Century" schrieb, das 1977 erschien. In 
Großbritannien kam etwa zur selben 


Zeit eine Broschüre mit dem Titel "Did 
Six Million Really Die ", unter dem 
Pseudonym Richard Harwood heraus, 
der vorgab von der Londoner Universität 
zu sein. Es stellte sich heraus, daß es in 
Wirklichkeit Richard Verall, Heraus¬ 
geber des Neonazimagazins der“Natio- 
nal Front” war, ohne irgendwelche 
Kontakte zur Universität von London 

ZU Bemüht, Zundel zu verteidigen, 
kontaktierten beide einen Amerikaner 
in Bosten namens Fred Leuchter, der 
die Hinrichtungszelle in US-Gefäng- 
nissen entwarf und installierte. Sie 
überzeugten Leuchter, der sich fälsch¬ 
licherweise als Ingenieur ausgab, daß 
der Holocaust ein Mythos sei und daß 
er als Sachverständiger im Zundelpro¬ 
zeß auftreten solle. Leuchter flog da¬ 
raufhin für eine Woche nach Polen, 
verbrachte drei Tage in Auschwitz- 
Birkenau und einen Tag in Majdanek. 
Anschließend schrieb er seine Ergeb¬ 
nisse unter dem Titel "Der Leuchter 
Report” auf, der 1988 veröffentlicht 
wurde. In diesem “Gutachten” behaup¬ 
tete er, daß an diesen Orten, aufgrund 
des Entwurfs und der Konstruktion 
keine Vergasungen stattgefunden haben 
können. Obwohl Leuchter und sein 
“Gutachten” als vollkommen unglaub¬ 
würdig galten, als er schließlich im 
Zundelprozeß aussagte, wurde sein 
“Report” zur wichtigen Stan¬ 
dardliteratur der Neonazis und der 
“Holocaust-Leugner”. 

Die Bedeutung der Bewegung der 
“Holocaustleugner” kann nicht genug 
betont werden, zumal die gesamte neo¬ 
faschistische und neonazistische Be¬ 
wegung von den pseudowissenschaft¬ 
lichen und pseudoakademischen Wer¬ 
ken der Revisionisten, zur Legitimation 
Hitlers und Mussolinis abhängt. Diese 
verfaßten Werke zirkulieren in vielen 
Sprachen und werden in Länder wie 
Deutschland geschmuggelt, wo sie 
verboten sind. 

Zu den gegenwärtig führenden Per¬ 
sönlichkeiten innerhalb der Bewegung 
der “Holocaustleugner” zählen Robert 
Faurisson, Professorder Universität von 
Lyon, sein Protege Henri Roque und 
der Herausgeber Pierre Guillaume. In 
England ist die führende Figur David 
Irving, ein Schrifsteller für völkische 
Geschichte und Bewunderer Hitlers, der 
schon häufig auf Neonazitreffen in 
Deutschland, besonders auf denen der 


DVU gesprochen hatte. In Kanada ist 
übrigens die bedeutendste Figur Emst 
Zundel, ein deutscher Immigrant, der 
ein “begabter”, demagogischerAutor 
von neonazistischen Abhandlungen ist. 

Er verfaßte das Buch mit dem Titel 
"The Hitler We Loved And Why”. 
Zundel gilt als einer der größten Ver¬ 
teiler von Neonazipropaganda in der 
Welt. Sein Verlagshaus, " Samizdat 
Publications” , verteilt eine breite Pa¬ 
lette antisemitischer, rassistischer und 
den Holocaust leugnender Schriften, 
(inklusive der Kassetten mit Dritte 
Reich-Liedern und -Märschen), nicht 
nur nach Kanada, sondern auch in die 
Vereinigten Staaten, nach Europa und 
vorallem an die Neonazibewegung in 
Deutschland. Zundel hatte bereits wäh¬ 
rend der 80er Jahre zweimal in Kanada 
versucht, durch die Veröffentlichung 
und Verbreitung falscher Informationen 
den Antisemitismus zu schüren. Zu sei¬ 
nen Verteidigern gehörten Robert Fur- 
rison und David Irving. 

Noch eine weitere Schöpfung Willis 
Cartos und der“Liberty Lobby” ist die 
sogenannte “Populist-Party”, die 1984 
gegründet wurde, um ihren Kandidaten 
in den Präsidenschaftswahlen durchzu¬ 
bringen. Als er vom Antisemitismus 
der “Lobby” erfuhr, legte der Kandidat, 
der übrigens ein ehemaliger Olympia¬ 
sieger war, seine Kandidatur nieder. 
Vier Jahre später war David Duke Prä¬ 
sidentschaftskandidat der “Populist 
Party”, ein ehemaliger Führer des “Ku 
Klux Klan”-Ordens, der früher einmal 
gesagt haben soll: "Ich bin ein Natio¬ 
nalsozialist, Sie können mich als Nazi 
bezeichnen, wenn Sie wollen." Der 
Vize-Präsidentschaftskand idat der 
"Populist Party" war James Gritz, der 
eine Art “Rambo”-Imitator darstellt. 
Seine Partei kandidierte in nur zwölf 
Bundesstaaten auf der Kandidatenliste 
und erhielt gerade mal 50.000 Wähler¬ 
stimmen. Die Partei unterstützte Duke 
allerdings nach Kräften bei seinem 
erfolgreichen Wahlkampf im Bundes¬ 
staat Louisiana 1989, wo er schließlich 
republikanischer Abgeordneter wurde. 
Sehr aktiv war die “Populist Party” 
auch in den nordwestlichen Bundes¬ 
staaten am Pazifik. (Zu Gritz, Duke etc. 
vgl. auch SF 3/95: Daniel Junas: Der 
Aufstand der Milizen, S.4ff.) 

Zur dritten relativ weitgefaßten Kate¬ 
gorie der rechtsextremen Bewegung in 
den USAzähltdie “Christian Identity" 


SF 1/96 [43] 









und ihr verwandte Gruppen, wie die 
“Posse Comitatus”, die “Aryan 
Nations”, “The Order”, die “Patriot 
Movement” unddieprivaten Milizen, 
die durch das Bombenattentat von 
Oklahoma City bekannt wurden. 

“Christian Identity” ist eine dezen¬ 
trale religiöse Bewegung, die einige 
der wichtigsten nazistischen und fa¬ 
schistischen Lehren, einschließlich 
eines aggressiven Antisemitismus und 
Rassismus, verinnerlicht. Diese Kirche 
betont die Notwendigkeit, eine neue 
zivile Ordnung, dieauf einem biblischen 
Gesetz basiert, auf jede erdenkliche Art, 
auch mit Hilfe militanter Gewalt zu 
institutionalisieren. 

Die Theologie der “Christian Iden¬ 
tity” stellteine sonderbare Ausformung 
innerhalb der religiösen Bewegung im 
England des 19Jahrhunderts dar, die 
“Britischer Israelismus” genannt 
wurde. Sie glaubten, daß die von Gott 
auserwählten Menschen, die zehn 
verlorenen Stämme Israels, Engländer 
oder andere nordeuropäische Menschen 
waren und ihre Nachkommen in den 
Vereinigten Staaten leben und - mit 
anderen Worten - arischer Herkunft 
waren. Sie glauben, daß Gott bevor er 
Adam und Eva schuf, minderwertige 
Menschen, die vor Adam lebten, er¬ 
schaffen hatte, die heute die Schwarzen 
und andere Nichtarier repräsentieren, 
die sie wiederum als “Menschen des 
Schlamms” bezeichnen. Später erschuf 
Gott Adam und Eva, wie es in Genesis 
steht, aber die ursprüngliche Sünde 
bestand in derkörperlichen Verführung 
Evas durch den Teufel, der ein 
menschliche Form” annam. Kain war 
das Ergebnis des Verstoßes aus dem 
Garten Eden in Verbindung mit den 
Menschen, die vor Adam lebten, bzw. 
den “Menschen des Schlamms”. Ge¬ 
nauso wie der Sohn des Teufels seine 
Nachkommen damit beauftragte, für 
immer die Geschäfte des Teufels auf 
Erden zu verrichten, würden die Juden 
heute als Nachfahren Kains immernoch 
die Saat des Teufels streuen. Der Nach¬ 
komme Abels, der von Adam gezeugt 
wurde, schuf die Israeliten und die zehn 
verlorenen Stämme, eine genealogische 
Abfolge, an deren Ende die weiße oder 
arische Rasse steht. 

“Christian Identity”-Gruppen be¬ 
fürworten ausdrücklich militante Posi¬ 
tionen, um die politische Ordnung um¬ 
zuwälzen. Siegehen davon aus,daß die 


Regierung Teil einer internationalen 
jüdischen Verschwörung sei, die sich 
auf das zaristische Konstrukt der "Pro¬ 
tokolle der Weisen von Zion” von 1890 
gründen. S ie bezeichnen die Regierung 
als sogenannte ",Zionistische Okku¬ 
pationsregierung "(Z.O.G.). Weil ihren 
Kirchen eine zentrale Struktur fehlt, 
schwanken die Schätzungen ihrer 
Mitgliederzahlen zwischen Dreißig-bis 
Hunderttausend. 

In den frühen 70er Jahren wurden die 
Militanten der Bewegung von William 
PotterGale, einem ehemaligen Offizier 
der US-Armee, der ein “Identity”- 
Minister in Kalifornien gewesen ist, 
angeführt. Zu diesem Zeitpunkt waren 
die Militanten in der sogenannten 
“Posse Comitatus”, vprallem in den 
Staaten des Mittleren Westens aktiv. 
Der Name bedeutet “Herrschaft des 
Kreises ,unddieDoktnnderBewegung 
besagt, daß keine höhere Gewalt, als 
die lokale Kreisregierung befugt ist, 
ihre Macht legitim auszuüben. Ihr Pro¬ 
gramm beinhaltet u.a. die Zahlung der 
Einkommenssteuer, den Gebrauch von 
Führerscheinen (oder irgendwelcher 
anderer vom Staat oder der Regierung 
ausgestellten Dokumente) zu verwei¬ 
gern, einschließlich Geburtsurkunden 
und Heiratsverträge. Der Sheriff des 
jeweiligen Kreises gilt als der einzig 
rechtmäßige Garant für die rechtmäßige 
Anwendung von “law and Order”, d.h. 
diese Bestimmungen können nur von 
der “posse” des Schliffs umgesetzt 
werden, einer lokalen Miliz, die aus 
Männern zwischen 15 und 45 Jahren 
besteht. 1976 schätzte das FBI die Zahl 
der aktiven “Posse”-Mitglieder auf 
12.000 bis 50.000, unterstützt von etwa 
zehn bis zwölf mal so vielen Anhängern. 
Siesindmit73 Abteilungen in 23 Staaten 
vertreten. Am aktivsten waren sie in 
den 70er und den frühen 80er Jahren. 
Etwa 1985 gingen sie in andere Orga¬ 
nisationen, wie die “Liberty Lobby’s 
Populist Party” ein. Nichtsdestotrotz 
sind ihre Überzeugungen nach wie vor 
präsent und finden sich heute in der 
“County Rule”-Bewegung wieder, 
welche die Selbstverwaltung des Krei¬ 
ses über das republikanische Gesetz 

Stellt 

Posse -Mitglieder waren grund¬ 
sätzlich schwerbewaffnet und sie be¬ 
tonten die Notwendigkeit von para¬ 
militärischen Übungen und Über¬ 
lebenstraining. Zu ihrer Taktik gehörte 
auch die Aufstellung von Todeslisten 


für Staatsbeamte. Sie boykottierten 
Hypothekenschulden und; Pfändungen 
durch Banken und widersetzten sich 
ihrer Verhaftung häufig durch Gewalt. 
So z.B. im Fall “Gordon Kahl”, ein 
“Identity”-Gläubiger und “Posse”- 
Anführer. 1983 ermordeten Kahl und 
andere “posse”-Mitglieder zwei Be¬ 
zirkspolizeichefs in North-Dakota. Die 
Polizei wurde allarmiert, um Kahl, 
wegen seiner Weigerung, die Einkom¬ 
menssteuer zu zahlen, zu verhaften. Er 
entkam, wurde aber einige Monate 
später in einem Haus in Arkansas 
entdeckt, das von Polizei- und FBI- 
Beamten in Brand gesteckt wurde, 
wobei Kahl ums Leben kam. 

Eine weitere Gruppe, die sich aus der 
“Christian Identity” heraus entwickelt 
hat, ist die “Aryan Nations”, die von 
Richard Butler, einem “Identity”-Mi- 
iitanien aus Kalifomia, der 1973 nach 
Idaho zog, gegründet wurde. Dort 
errichtete er eine “Identity”-Kirche, die 
sich “The Church of Jesus Christ 
Christian” nannte. Später wurde diese 
Kirche zum Hauptstützpunkt der “Ar¬ 
yan Nation”, Mit ca. hundert Anhän¬ 
gern gründete Butler ein streng be¬ 
wachtes, etwa zwanzig Hekatr großes 
Lager in der Nähe von Hayden Lake, 
das eine Schule, eine Kirche und einen 
paramilitärischen Übungsplatz umfaßte. 
Seit 1979 versucht die “Aryan Na¬ 
tions” als Sammelbecken für die unter¬ 
schiedlichsten Organisationen der Neo¬ 
nazibewegung zu dienen, ihr jährlicher 
Kongreß zog Mitglieder eines weiten 
Spektrums der weißen, rassistischen 
Gruppen einschließlich des Ku KIux 
Klan an, 1986 propagierte diese Bewe¬ 
gung das Ziel, eine Republik nur für 
weiße Staatsbürger zu errichten. Mit 
Butlers fortgeschrittenem Alter befand 
sich die “Aryan Nations” in den letzten 
Jahren allerdings in einer leichten Tal¬ 
fahrt. 

In den 80er Jahren erzeugte “Aryan 
Nations” eine der gewalttätigsten, ras¬ 
sistischsten Gruppierungen dieses Jahr¬ 
zehnts: “The Order”. Der Gründer war 
Robert Mathews, ein Mitglied von 
Richard Butlers “Identity—Kirche und 
ehemaliges Mitglied der Jugendorga¬ 
nisation der “National Alliance” von 
William Pierce. Mathews war sehr stark 
beeinflußt von Pierces’ Erzählung “The 
Turner Diaries". Erinnern wir uns: Der 
1978 erschienene, fiktive Roman 
beschreibt das Szenario einer erfolgrei- 


[44] SF 1/96 



chen weißen Revolte gegen die republi¬ 
kanische Regierung, um eine aus¬ 
schließlich weiße Nation zu errichten, 
ln dieser Erzählung wird die Revolution 
v on einem kleinen, internen Zirkel 
angeführt, der sich “The Order” nennt. 

Mathews veranlaßte seine Gruppe, 
die nach ihr benannte und geformte 
sogenannte “Z.O.G ” zu bekämpfen. 
In der Erzählung nimmt “The Order” 
den Kampf zunächst mit acht schwer- 
bewaffneten Männern auf, deren Anzahl 
sich später auf etwa vierzig Mitglieder 
erhöht. Während der einundzwanzig 
Monate im Zeitraum von 1983 bis '84 
verübte die Organisation eine Serie von 
spektakulären Bank- oder bewaffneten 
Autoüberfällen,wobei siedieerbeuteten 
y ier Millionen U.S.-Dollars zum Teil 
der Kirche Butlers übergaben. Außer¬ 
dem fälschten sie Unmengen von Geld¬ 
scheinen und vervielfältigten diese in 
e iner internen Lager-Druckerei der 
“Aryan Nations”. Sie verübten eine 
Bombenanschlag auf eine Synagoge 
und ermordeten einen Talkshow-Mode¬ 
rator von Denver-Radio. Möglicher¬ 
weise infiltrierte das FBI die Gruppe 
und stellte Mathews und die anderen im 
Jahr 1984. Im Dezember umstellten 150 
BBI-Agenten ihr Sicherheitsquartier in 
Whidbey Island, in der Nähe von Seattle 
und steckten es in Brand, wie sie es 
zuvor schon mit Gordon Kahl getan 
batten, wobei Mathews und die anderen 
verbrannten. Die übrig gebliebenen 
“Orderi’-Mitglieder, ungefähr zwei 
Dutzend, wurden 1985 gefangen 
genommen und die meisten von ihnen 
landeten im Gefängnis. 

Eine weiter noch umfassendere Be¬ 
wegung, die sich in den 80em ent¬ 


wickelte, ist unter der Bezeichnung 


“Patriot Movement” bekannt gewor¬ 
den. Sie ist mittlerweile erstaunlich 
angewachsen und vereinigt Rassisten 
und Antisemiten im Stile der “Liberty 
Lobby” und der “Christian Identity”, 
sowie andere Einrichtungen, wie z.B. 
die “John Birch”-Gesellschaft, die ihre 
Verbindungen zum Antisemitismus 
abstreiten. Mitglieder der christlichen 
Rechten, die an die Lehren Pat Ro¬ 
bertsons glauben, gehören ebenfalls dem 
“Patriot Movement” an. Ihre Mit¬ 
gliederzahl wurde 1990 auf schätzungs¬ 
weise fünf Millionen veranschlagt. Sie 
alle eint der Glaube an eine interna¬ 
tionale Verschwörung, wobei politische 


nd ökonomische Fakten von einer 
leinen elitären Guppe manipuliert 
/erden. Ihr Verfolgungswahn basiert 
uf der bereits erwähnten ökonomischen 
Rezession in den Vereinigten Staaten 
und dem sozialen Umbruch m den 60er 
lahien, das heißt mit dem Entstehen der 
feministischen Bewegung, der Schutz¬ 
verbände der Schwarzen und anderer 
Minderheiten, sowie der Ökologie-Be¬ 
wegung. Sie betrachten die Regierung 
als ihren Hauptfeind, der die Schuld für 
ihre Misere trägt. Ein weiterer Ker- 
eedanke ihres Glaubens stützt sich auf 
jas absolute, uneingeschränkte Recht 
Waffen zu besitzen, was sich ihrer 
Interpretation zufolge auf den Artikel 2 
ler Verfassung gründet, der das Recht 
ui- Rfirger einräumt, Waffen zu 


besitzen. 


Die “Patriot Movement” galt als 

oppositionelle Vorhutim Kampf gegen 

die Gesetzgebung der Regierung der 


»Nach Oklahoma: 

Faschismus in den USA« 

E'ne Veranstaltungsreise tnit dem Dignlty« aus 

^nathan Mozzocki von der »Coalition for Huma 
^ortland, Oregon, USA. __ ' _ 

I ^ranstaltungstermine 1996: Donnerstag, 22. Febr. 

L Nürnberg: Samstag, lO.Februar Dresfle' • Freitag, 23. Februar 

^Stuttgart: Montag, 12. Februar Leipzig. Montag> 26 . Fe5ruar 

Reutlingen: Dienstag, 13. Februar Raunsch g Dienstagr 2 7. Februar 
! ^ u PPertal: Donnerstag, 15. Februar Ha • Mittwoch, 28. Febr. 

| Bielefeld; Freitag, 161 Februar Freitag, 1 . März 


; Bielefeld: Freitag, 161 Februar jgjL Freitag, 1 . März 

Oldenburg: Montag, 19. Februar ÄSäide: Sonntag, 3. Marz 

j Br emen: Dienstag, 20. Februar Lucjcenwaiu_ 

°' a Ver anstaltungsrelso wird von den AnttfA-Zätimseii' äntematlonaten 

An*-, rech,e Bend« (Hannover): »AntHa-NRW-ZeHung« ,- gt j sc f ies Komitee« (Bremen) unterstützt. 

1 az °itung »Searchlight« sowie der Antifagruppe »an 

„Nash Oklahoma: Die faschistisch. Szene In den USA., 


Bundesstaaten, die in den vergangnen 
Jahren eine Wartezeit für den Erwerb 
von Handfeuerwaffen erforderlich 
machte, um es der Polizei zu er¬ 
möglichen, eine Überprüfung des Käu¬ 
fers und des Verkaufsverbots bestimm¬ 
ter Angriffswaffen vornehmen zu kön¬ 
nen. Sie glauben, daß dieses Gesetz, als 
Teil eine neuen Weltordnung, der An¬ 
fang eine umfangreicheren Plans zur 
Entwaffnung Amerikas darstellt. 

Innerhalb der “Patriot Movement” 
und den Überresten der “Posse Comi- 
tatus” tauchten Anfang 1990 die pri¬ 
vaten Milizen auf, wobei zwei Ereig¬ 
nisse (Weaver und Davidianer- 
"Märtyrer", vgl. SF 3195) ihr äußerst 
schnelles Anwachsen unterstützten. 
(...) 

Es wird vermutet, daß sich 1995 in 
fast jedem Bundesstaat bewaffnete, zi¬ 
vile Milizen, mit militärischen Struk¬ 
turen und Rängen organisiert haben und 
das sich ihre schätzungsweise 10.000 
bis 100.000 Mitgliederaus überwiegend 
weißen Männern zusammensetzen. Das 
“TimeMagazine”veranschlagtdieZahl 
ihrer Anhänger sogar auf 12 Millionen. 
Die Größe ihrer Einheiten wechselt von 
Ort zu Ort und liegt bei 5 bis 15 und 
mehreren hundert Mitgliedern. Wider¬ 
stand gegen die Kontrolle des Waffen¬ 
verkaufs und die Umsetzung von Regie¬ 
rungsprogrammen, stellen den Aus¬ 
gangspunkt für ihre Aktivitäten dar. Sie 
legen Vorräte an Waffen und Nah¬ 
rungsmitteln an und verpflichten sich 
zu paramilitärischen Übungen, sowie 
Überlebenstraining. Der frühere Präsi¬ 
dentschaftskandidat der “Populist 
Party” und Rambo-Imitator James Gritz 
isteinerder führenden Persönlichkeiten 
ihrer Zielsetzungen (So bezeichnete 
Gritz das Oklahoma-Bombenattentatals 
“...Ein Meisterstück... als ein Rem- 
brandt.”) Die religiösen Vorstellungen 
der “Christian Identity” sind unter den 
Milizen äußerst populär und obwohl sie 
über keine nationale Organisation oder 
Stützpunkte verfügen, greifen sie auf 
telephonische Infodienste, Computer¬ 
tagesberichte, E-Mail, Fax und Kurz¬ 
wellenradios zurück, um ihre Aktivi¬ 
täten zu koordinieren und Informationen 
auszutauschen. 

Innerhalb der Milizen eignete man 
sich die Doktrin des “führerlosen 
Widerstandes” an, wobei kleine Zellen 
von sechs bis acht Mitgliedern eine 
geheime Einheit bilden, um kriminelle 


SF 1/96 [45] 












Aktionen auszuführen, inklusive direk¬ 
ter Gewaltanwendung gegen offen¬ 
sichtliche Feinde. Louis Beam erfand 
ein Konzept, der Penetration von Seiten 
der Regierung vorzubeugen. Er war ein 
ehemaliger Kampfhubschrauberpilot in 
Vietnam, früherer Leiter des texa- 
nischen Ku Klux Klan und lebt in¬ 
zwischen in Idaho wo er bei den “Aryan 
Nations” aktiv ist. Beam war ein früher 
Organisator der Milizen, und das Okla¬ 
homa-Bombenattentat kann als gutes 
Beispiel dafür gelten, wie sich seine 
Doktrin in Praxis umsetzen läßt. Einer 
der Angeklagten, Terry Nichols, war in 
den “Northern Michigan-Miliz tä ti g, 
während der andere Beschuldigte, 
Timothy McVeigh ein U.S. Veteran ist, 
derim Golfkrieg diente. (.. Auslassung: 
Gerüchte der Milizen, siehe SF-3/95) 

Obwohl einige ihrer Beschwerden, 
die auf ökonomischen Umwandlungen 
in den Vereinigten Staaten basieren, 
verständlich erscheinen, lassen sie sich 
durch ihre extrem-rechten, populi¬ 
stischen Anschauungen in die Ecke der 
nationalfaschistischen Bewegungen 
einordnen, wobei sie zu einer real zu¬ 
nehmenden Bedrohung werden 

Die vierte und letzte Gruppe die noch 
zu erörtern sein wird ist die extrem¬ 
rechte, militante Bewegung der Neo¬ 
nazi-Skinheads, des Ku Klux Klan 
und eine weitere Organisation, die sich 
“White Aryan Resistance” nennt, 
sowei die NSDAP-AO. 

Obwohl zunächst viele rechtsextreme 
Führer damit begannen, sich dem Ku 
Klux Klan anzuschließen, verlor der 
Klan seit 1960 schließlich an Einfluß, 
da sich eine unterschiedliche Anzahl’ 
von rivalisierenden Klans herausbildete 
und die ständigen Konflikte ihrer Füh¬ 
rern anhielten. Nichtsdestotrotz setzte 
der Klan auch weiterhin die Organi¬ 
sation paramilitärischer Untergrund- 
Einheiten fort, sprach in der Öffent¬ 
lichkeit von angeblicher Überlegenheit 
der Weißen und verfolgteeinen extrem¬ 
immigrantenfeindlichen Kurs. 

Tom Metzger war der Mann, der den 
Klan und das Priesteramtder“Christian 
Identity” aufgab, um Karriere als 
Führer seiner eigenen Neonazi-Orga¬ 
nisation zu machen. Seine Organisation, 
die “White Aryan Resistance “ 
(W.A.R.) und die mit ihr assoziierte 
“Aryan Youth”-Bewegung seines 
Sohnes John, haben ihren Stützpunkt in 

Südkalifomien, ihr Einflußbereich ist 


[46] SF 1/96 


allerdings landesweit. Metzger war ein 
eifriger “The Order”- Unterstützer 
während der 80er Jahre, der Untergrup¬ 
pen in vielen Bundesstaaten gründete, 
“Computer-Info-Netzwerke”,Telefon- 
Informationssysteme benutzte und ein 
wöchentliches Fernsehprogramm, mit 
dem Titel “Race and Reason” produ¬ 
zierte, das in möglicherweise 50 Städten 
auf Kabelfemsehen zu empfangen war. 

“Aryan Nations”,“W.A.R ” undder 
“Ku Klux Klan” begriffen sehr schnell, 
welche Rekrutierungspotentiale sich aus 
der Neonazi-Skinhead-Bewegung er¬ 
gaben, als sie sich Mitte der 80er Jahre 
aus Großbritannien in die Vereinigten 
Staaten auszubreiten begann. Binnen 
zehn Jahren nahm ihre Anzahl um 3.500 
zu, so daß sie nun in mindestens 40 
Staaten vertreten sind. Sie verübten 
knapp 40 Morde an Schwarzen, Spa¬ 
niern, Asiaten, Homosexuellen und 
obdachlosen Menschen. Die Ermordung 
eines äthiopischen Immigranten durch 
Skinheads in Portland, Oregon, führte 
zu einer 12.5 Millionen Dollar Klage 
der Familie des Opfers gegen Tom 
Metzger, der die Skinheads angestiftet 
hatte, das Verbrechen zu begehen. 
“Aryan Nations” sponsern regelmäßig 
im April in ihrem Camp in Idaho Skin¬ 
head-Versammlungen, um neben der 
Veranstaltung von Rock-Konzerten, 
Hitler’s Geburtstag zu feiern. Zweifels¬ 
ohne hat die Zusammenführung der 
Neonazi-Skinheads mit den älteren 
rassistischen Gruppierungen, die ge¬ 
walttätigste rechtsextremistische Be¬ 
wegung der 90er Jahre erzeugt. Neben 
Mord, beinhalten ihre Aktivitäten 
militante Angriffe, Schlägereien, Bom¬ 
benanschläge, Pläne einen Rassenkrieg 
zu schüren, Kämpfe mit nicht rassi¬ 
stischen Skins und die Verbreitung von 
Skin-Zeitschriten und Kasetten von 
Skin-Rockbands. 

Ein anderer Uralt-Neonazi, der enge 
Verbindungen zu den Skins pflegte, ist 
Gary Lauck der Führer der “Natio- 
nalsoziaSistischen Arbeiterpartei”, 
oder NSDAP-AO, in Lincoln, Ne¬ 
braska. Die Buchstaben “AO” stehen 
für Aufbau und Auslands-Organisation 
der gleichnamigen Partei Hitlers. 20 
Jahre lang verteilte er Neonazi-Propa¬ 
gandamaterial und Zubehör, wie Haken¬ 
kreuz-Armbänder und -anstecker in den 
Vereinigten Staaten, nach Latein¬ 
amerika und besonders nach Deutsch¬ 
land, wo diese Publikationen verboten 


sind. Seine Schriften erscheinen in 12 
Sprachen. Er verteilte auch Anleitungen 
zum Bau von Bomben. Neben der Ver¬ 
breitung von Propaganda, arbeitete 
Lauck auch an der Herstellung eines 
Netzwerks, dem sich die europäischen 
Neonazi-Gruppen seiner NSDAP-AO 
angliedem, um die Bewegung durch 
eine internationale Komponente zu 
erweitern. 

Im April 1995 wurde Lauck in Däne¬ 
mark verhaftet. Als Antwort auf das 
deutsche Auslieferungsgesuch, wurde 
er von dänischer Seite den Deutschen 
Justizbehörden überstellt Er ist mo¬ 
mentan in Hamburg inhaftiert und wartet 
auf seinen Prozeß. Ihm stehen wahr¬ 
scheinlich fünf Jahre Gefängnis bevor. 

Dies sind die wesentlichen rechts¬ 
extremistischen Akteure und Vereini¬ 
gungen in den Vereinigten Staaten. Eine 

de wichtigsten Einrichtungen zur 
Überwachung von Rechtsextremisten, 
das "Zentrum für demokratische Er¬ 
neuerung” in Atlanta, schätzt, daß über 

25.000 Aktiveden harten Kern der Neo¬ 
nazigruppen bilden und daß sie über 
200.000 Unterstützer verfügen. Die 
Millionen Anhänger der christlichen 
Rechten oder die zehntausende von 
Milizionären, unter denen sich viele 
Neonazis tummeln, mal nicht dazuge- 
rechnet. 

Wohin wird die Dynamik dieser 
breitgefächerten Bewegung letzlich 
führen? Es ist faktisch unmöglich dies 
genau vorauszusagen. Aber eines ist 
sicher, es sprechen keinerlei Anzeichen 
dafür, daß sich, angesichts der zuneh¬ 
menden Entwicklung der Vereinigten 
Staaten zu einem quasi “Dritte Welt’*- 
Land, die Aussichten auch nur an¬ 
nähernd verbessern würden. Wie das 
Ergebnis des O J. Simpson-Prozeß ge¬ 
zeigt hat, ist die Trennung zwischen 
S chwarz und Weiß so weit fortgeschrit¬ 
ten und das Klima untereinander so 
feindschaftlich, wie nie zuvor. 

Die Schwarzamerikanerin Toni 
Morrison, die 1993 den Literatumobel- 
preis gewann, schrieb zu Beginn dieses 
Jahres: 

.Das Einzigartige des Faschismus 
ist , daß jede politische Struktur diesem 
Virus als Wirt dient und daß für ih n 
praktisch jedes entwickelte Land ein 
passendes zuhause werden kann. Der 
Faschismus spricht ideologische Bände, 
ist in Wirklichkeit aber nur reine Ab¬ 
satzpolitik - Absatzpolitik für Macht . 

Zusammengefaßt und übersetz 

aus dem Amerikanischen 

von Arian Faribod 





25 Jahre 
Black Rose 
Books 

»Prinzip 1: 

Du mußt die 
Selbstausbeutung 
akzeptieren« 


Interview mit 
Dimitri Roussopoulos 


von Wolfgang Haug 
und Andl Ries 


^ ra ge: Dimitri , wir wollen mit der 
Verlags ge schichte beginnen. Wann 
hast Du mit Black Rose Books an ge¬ 
fangen? War st Du alleine? Wie kamst 
L« dazu , libertäre Bücher zu ver¬ 
legen? Wie kam es zum Namen? 

dimitri: Das sind viele Fragen.Ich war, 
^ie Ihr wißt, in den 60er Jahren sehr 
äktiv innerhalb der Neuen Linken. 
Schon immer sehr an theoretischen 
Prägen interessiert, gründete ich 1961 
flrit einer Gruppe von Freunden in 
Montreal eine Zeitschrift, die »Our 
Generation«. Die Zeitschrift sahen 
^ir als Versuch, die Ideen der Neuen 
Linken kritisch zu untersuchen und 
eine Grundlage zu schaffen, die 
libertären Tendenzen innerhalb der 
Neuen Linken bewußter zu machen, 
verdeutlichen, woher sie kommen, 
^it was sie verbunden sind und wie 
sie programmatisch für zukünftige 
Veränderungen genutzt werden kön¬ 
nen. 

D as war im Herbst 1961, aber eine 
Zeitschrift, die viermal im Jahr er- 



cheint, hat ihre Grenzen. Als sich in 

Nordamerika dasEnde der Bewegung 
angsam ankündigte, nahm deshalb 
969 die Idee, Black Rose Books 
lufzubauen, Gestalt an Die Idee 
■ntwickelte sich aber recht unortho- 
lox Ich wurde von einem großen 

/erlag angesprochen, ein Buch über 

lie Neue Linke in Canada zu schrei¬ 
en Ich schrieb das Manuskript, 



Iler, heute weiß ich es besser 
vartete, daß wenn ich heute das 
inuskript dem Verlag übergebe, 

3 Buch auch eine Woche später 

rauskäme. AberderVerlagbrauch- 

natürlich länger, genauer gesagt 
juchte er 6 Monate, - heute wei 
, daß 6 Monate überhaupt nichts 
id in der Verlagslandschaft. Damals 
jrdeich sehr ungeduldig undmeme 
ilitischen Freunde waren es eben- 
Hs Wir wollten das Buch aus poli- 
Chen Gründen schnell veröffent- 
ht sehen. Wir saßen eines abends 

imirzuHauseundwir entschlossen 

s unseren eigenen Verlag zu star- 

n Wir waren zu neunt und j er 
g t6 daß er mit 100 Dollar dabei 
L Mit diesen 900 Dollar verof- 

rndichien wir dieses erste Buch, das 

hr erfolgreich war. Wir legten es 
-eimal auf und verkauften zwischen 

V)0 und 9000 Exemplaren. Das war 

170 sehr bemerkenswert. In dieser 
eit kam Murray Bookchin nac 
lontreal, er saß bei mir zu Hause, 
ir tranken Wodka und überlegten 
ns , wie dieser Verlag nun heißen 


könnte. Murray schlug vor, ihn Black 
Rose zu nennen. Er erzählte uns den 
Ursprung des Mythos der" Schwarzen 
Rose": Gemäß der Legende würden 
diejenigen in den Bauernkriegen des 
Mittelalters,diedieFreiheitgefunden 
hatten, auch eine schwarze Rose in 
derNatur finden. Umgekehrt würden 
diejenigen, die eine schwarze Rose 
gefunden haben, auch die Freiheit 
finden. Es erübrigt sich hinzuzufügen, 
daß wir niemals ein Logo der schwar¬ 
zen Rose machen ließen, denn wir 
wollten natürlich, daß die mensch¬ 
liche Phantasie frei darüber verfügen 
kann. 

Vor 25 Jahren also haben wir den 
Verlag begonnen und ca. 250 Titel 
wurden seitdem produziert. 

Frage: Was hat sich in all den Jahren 

verändert? Sind heute von den neun 
Gründungsmitgliedern außer Dir 
noch andere irgendwie im Verlag 
tätig? 


Dimitri: Nein. Wir begannen als Ko¬ 
operative, aber alle anderen arbeiteten 
in ihren jeweiligen Jobs. Ich war der 
einzige, der entschied, ausschließlich 
den Verlag zu machen. 

Wenn aber eine Person eine Tätigkeit 
jeden Tag macht und die anderen sich 
alle zwei Wochen einmal treffen, dann 
entsteht natürlich ein Wissensvor¬ 
sprung. Sie übernahmen bestimmte 
Aktivitäten wie die Herausgeber¬ 
schaft, das Auftreiben von Manus¬ 
kripten etc. Nach ungefähr 5 Jahren 


£ 

3 

2 


% 


oo 

§ 

,oo 


SF 1/96 [47] 


Foto: Woli 














Neues aus dem Trotzdem 
Verlag 

Joseph Weber: Die Krise des sozialen 
Bewußtseins in unserer Zeit. 

Weber beschreibt die fehlende Verantwortlich¬ 
keit der Intellektuellen am Beispiel der Ent¬ 
stehung der Atombombe. 99 S„ 16.- DM 

Jean-F.Lyotard: Streitgespräche, oder 
Sprechen nach Auschwitz. 

Der Versuch einer Wiederanknüpfung eines 
Austauschs von deutscher und französischer 
Philosophie, Neuauflage, 16.-DM 

Louis Adamic: Dynamit. 

Geschichte der revolutionären Arbeiterbewe¬ 
gung in den USA von 1880-1930. 416 S., 20.- 

W.Balsen/K.Rossel: Hoch die interna- 
tionale Solidarität. 

Grundlegendes selbstkritisches Werk zur Ge¬ 
schichte derDritte-Welt-Bewegung in der BRD 
vom Ende des Faschismus bis in die 80er Jahre 
anhand der Beispiele Algerien, Vietnam, Chile, 
Nicaragua, El Salvador und Portugal. 616 S 
29,80 DM 

Klaus Schönberger/Claus Koestler: Der 
Freie Westen oder Der vernünftige 
Krieg. 

Wie hierzulande die Herrschaft der "neuen" 
Weltordnung als "Krieg in den Köpfen" be¬ 
gonnen hat. Kritische Auseinandersetzung mit 
der Medienpolitikrund um den Golfkrieg. Ehe¬ 
mals Selbstverlag, ermäßigt auf 15.-DM 

Weitere preisgünstige Restauflagen 
bei Trotzdem 

- Carl Harp: Liebe und Haß. Aufzeichnungen 

eines schwarzen Anarchisten über die Realitätsanes 

alltäglichen Kampfes in amerikanischen Gefäng¬ 
nissen . 1981 wurde Carl Harp tot in seiner Zelle 
aufgefunden... Früher 12.-jetzt: 10.- 

- Für eine Gesellschaft ohne Knaste. Knastkampf 
in Italien. Früher 14.-, jetzt: 5.-DM 

- Knobelspiess: QHS - Der langsame Tod. Bericht 
aus einem französischen Hochsicherheitstrakt. 
Früher 12.-, jetzt: 4.- DM 

- 10 Tage, die England veränderten. Riots in 
Brixton und anderswo in Großbritannien. Früher 
12.-, jetzt: 3.- DM 

- Volker Szmula (Hg.): Johann Most - Schriften. 

4 Bände mit Artikeln Mosts aus seiner Zeit in 
Deutschland vor den Sozialistengesetzen. Je ca. 
220 S., nur noch 40.-DM 

Trotzdem-Verlag, PF 1159, 

71117 Grafenau/Württ. 


gingen sie zu anderen Dingen über. 
Die einzige andere Person aus dieser 
Ursprungsgruppe, die im Umfeld von 
Black Rose blieb, istLucia Kowaluh. 
Die meisten der ursprünglichenLeute 
sind schon noch interessiert und un¬ 
terstützen in der einen oder anderen 
Weise den Verlag, aber sie wissen, 
daß das ernsthafte Verlegen auch für 
einen radikalen Verleger sehr viel 
Professionalität verlangt. Es gibt 
Dinge, die mensch lernen muß, um 
zu überleben. Und ich habe jeden Tag 
hinzugelemt. Man muß es gut machen 
und schnell und effizient handeln. 
Die anderen erkannten, daß sie nicht 
ernsthaft in eine solche Arbeit einge¬ 
bunden sein könnten. 

Frage: Du hast uns erzählt, daß Murray 
einer der ersten Autoren des Verlags 
war. Wie ging es weiter. Heute ver¬ 
legst Du u.a. auch Noam Chomsky. 
Wie hast Du diesen Verlag entwickelt, 
nach welchen Kriterien setzt sich das 
Programm zusammen? 


Dimitri: Eines unserer selbstgesteckten 
Ziele war es, Bücher aus der anarchi¬ 
stischen Tradition wieder zu ver¬ 
öffentlichen, weil auf Englisch nicht 
mehr viel Ernsthaftes dazu lieferbar 
war. Das erste Buch, daß wir ver¬ 
öffentlichten, war Ida Metts "Der 
Kronstadt-Aufstand" und Murray 
schrieb dazu eine lange Einleitung. 
Dies war unsere erste Zusammen¬ 
arbeit mit Murray Bookchin, der 
regelmäßig nach Montreal kam, weil 
er in jener Zeit dabei war, nach 
Burlington/V ermont umzuziehen, wo 
er heute lebt. 


— ~ w,, uuscies vorn a De ns 
Schlüsselbücher der anarchistischer 
Tradition verfügbar zu machen, un 
der neuen Generation der 60er unc 
70er die anarchistische Traditior 
bekannt zu machen. 

Zum anderen wollten wir nicht ledig¬ 
lich "Klassiker” publizieren, sondern 
wollten zeitgenössische anarchisti¬ 
sche Schriften herausbringen. Einer 
er wichtigsten zeitgenössischen 
Autoren ist Murray Bookchin, ein 
anderer ist Noam Chomsky, ein 

anderer war (1995t) George Wood- 

COCK. 

Das erste Buch Murray Bookchins, 
das wir veröffentlichten, war "Post¬ 
scarcity Anarchism", das ursprüng- 


lieh von Ramparts Press in Berkeley, 
California veröffentlicht und dort sehr 
erfolgreich gewesen war (es konnte 
80.000 Exemplare verkaufen.) Als 
Ramparts pleite ging, übernahmen 
wir den Titel in das Programm von 
Black Rose. Ich glaube wir haben es 
inzwischen auch 5 oder 6 mal neu 
aufgelegt, es wird immer noch nütz¬ 
lich gefunden. Danach fragten wir 
Murray, ob er eine Sammlung seiner 
polemischen Essays zusammenstelle. 
Und gaben dies als "Towards an 
Ecological Society* heraus. 

Der Kontakt zu Noam Chomsky 
entstand Anfang 1980. Ende der 70 er 
Jahre wurde er von einem Verlag 
gefragt, ein kurzes Essay über den 
Vietnamkrieg zu schreiben, er unter¬ 
schrieb den Vertrag, lieferte das 
Manuskript ab und das Essay wurde 
auch gedruckt. Aber im Moment des 
Drucks wurde der Verlag von einem 
größeren Verlag, Warner, aufgekauft. 
Der Vizepräsident von Warner las 
das Essay und entschied, daß die 
Warner Company diesen Essay von 
Noam Chomsky nicht vertreiben 
könne. 10.000 Exemplare wurden 
eingestampft und niemand außerhalb 
von Warner bekam das Essay zu 
Gesicht. Persönlich hatte ich Noam 
während der Anti-Vietnam-Demon¬ 
strationen kennengelemt. Als ich das 
bei Freunden in Boston hörte, fragten 
wir ihn, ob er es nicht ein wenig 
ausbauen könne, dann könnten wir es 
als Buch herausbringen. Er sagte zu 
und arbeitete zusammen mit Ed Her¬ 
mann daran, seinem Freund, der an 
der Pennsylvannia Universität lehrt. 
Und typisch Chomsky wurden aus 
dem einen Buch zwei Bücher. Wir 
verlegten es als Band 1 und 2 der 
»Politischen Ökonomie der Men¬ 
schenrechte«. Damit begann meine 
persönliche Zusammenarbeit mit 
Chomsky, die bis heute andauert. 

Interessanterweise begann diese Zu¬ 
sammenarbeit bei einem Treffen 
gegen den Krieg in seinem Haus; cs 
waren viele Leute da. Im gleichen 
Raum mit uns saß auch Daniel Ells¬ 
berg und Chomsky und er unterhielten 
sich sehr viel von Ohr zu Ohr. Zwei 
Wochen später (ab dem 13. Juni 1971> 
Anm. SF-Red.) veröffentlichten 
New York Times und die Washington 
Post die Pentagon Papers. (Dt. Die 
Pentagon-Papiere. Die geheime G e ' 


[48] SF 1/96 







Schichte des Vietnamkrieges, Deutescher 
Bücherbund Stuttgart, 1971; Arun. SF- 
^ ed 0 Offensichtlich hatten Noam 
und Daniel besprochen, welches der 
beste Weg wäre, die Pentagon Papers 
öffentlich zu machen. Eilsberg hatte 
ln öer Rand Cooperation an den ge¬ 
heimen Papieren gearbeitet, die ent¬ 
hüllten, was die Amerikaner wirklich 
* n Vietnam gemacht hatten. Seine 
Veröffentlichung schlug wie eine 
Bombe ein. 

kleine Zusammenarbeit mit dem be¬ 
kannten Historiker George Wood- 
c ock, der leider 1995 gestorben ist, 
Sing von der Idee aus, alle Schriften 
v on Peter Kropotkin auf Englisch 
2 nsammenzutragen und herauszuge- 
ben. Es wurden 12 Bände, die wir 
über einen Zeitraum von ungefähr 6 
Jahren herausbrachten. Der letzte und 
neu ste der Bände, Evolution and 
Environment, kam leidereinen Monat 
n ach George Woodcocks Tod heraus, 
dieses Buch ist im übrigen eine Erst¬ 
ausgabe, es besteht aus Artikeln Kro- 
Potkins, der, wie ihr ja wißt, die 
m cisten seiner Bücher so geschrieben 
hat, daß er Zeitschriftenartikel als 
Kapitelgrundlage nahm. Diese Artikel 
über die "Umwelt" waren lange Zeit 
Ver gessen. Woodcock fand sie und 
stellte sie in seine Reihe. Woodcock 
^ar ein bemerkenswerter Mann. Er 
Sc hrieb zwei oder drei Bücher pro 
Jahr. 

Alle drei Genannten befanden sich 
lrn übrigen auch als Mitherausgeber 
lrn Impressum von »Our Generation«. 


Frage: Ein linker politischer Klein- 
verlag hat eigentlich immer mit dem 
wirtschaftlichen Überleben zu käm- 
i pfen, gab es solche Probleme bei 
Black Rose? 

Dimitri: Es ist mir wichtig zu betonen, 
daß Black Rose keine 25 Jahre lang 
überlebt hätte, wäre da nicht die 
Unterstützung und Zusammenarbeit 
dieser Leute und vieler anderer Men- 
sehen gewesen, die niemals danach 
geschaut haben, irgendwelches Geld 
mit Black Rose zu verdienen! 

Frage: Aus eigener Erfahrung wissen 
wir, wie schwer es ist, verlegerische 
Vorhaben zu finanzieren, wie schwer 
es bleibt , als radikaler politischer 
Kleinverlag überhaupt in die Buch - 
handlungen zu kommen, die allesamt 
kapitalistisch funktionieren müssen 
und deshalb ihre Regale nicht mit 
Büchern vollstellen, die sich selten 
verkaufen, weil sie nur ein Minder¬ 
heiteninteresse reflektieren.DieFra- 

se die sich nach25 Jähren aufdrangt, 
ist wie ist Black Rose damit umge¬ 
gangen, wie habt ihr überlebt und 

wie wird es weitergehen? 


I*J 


m pap 


iDimitri: Natürlich ist ein Teil der Ant- jftf ^ ! 
wort eine sehr persönliche Sache: Du 
mußt einen sehr einfachen Lebensstil 
entwickeln. Wolfgang hat mich in 
Montreal besucht und weiß, wir leben 
in einer Kooperative, bezahlen des- i§j| ! 

halb eine sehr niedrige Miete, unsere '^ßi; 11 
Ansprüche sind gering. Das ist wich- *■,£! 

tig. Das erste Prinzip bei einer solchen gj. l.-ft« 
Tätigkeitist,daßDudirderSelbsiaus- »w 'S* 
beutung bewußt wirst und damit zu- m. ’ |1|| 

frieden bist! Du kannst mit Freunden ml 
vielleicht mal groß Essen gehen, aber 
eben vielleicht dreimal im Jahr. Ins- 
gesamt mußt du aber das Prinzip der ||t§?®t§l 
Selbstausbeutung akzeptieren. Ich & $ 

habe kein Auto, ich tu das nicht und m- S 
jenes nicht... aber das Leben geht 
trotzdem weiter und ich kann vieles j' | 

in meinem Alltag genießen. Um dich m . |; 
herum, um den Verlag herum, braucht Ä|g' « 
es dann auch immer eine ganze An¬ 
zahl von Leuten, die genauso denken 
und handeln und sich in dieser ver¬ 
einbarten Zusammenarbeit ebenfalls 
selbst ausbeuten. Das reichtnatürlich 
noch nicht aus. Du mußt auch noch 
sehr dynamisch, sehr ernsthaft bei 
der Sacheund sehrclever sein. Gerade 
weil du radikale B ücher verlegst, mußt 
du sie vom Technischen her auf die 
best mögliche Weise machen. Du 
mußt den kapitalistischen Markt "aus 
beuten". Ihr seht hier sehr viele cana 
dische Verleger, sie respektieren alle 
Black Rose Books, obwohl sie alle 


V ■ 

' . ' 

illl 




























unsere Bücher nicht leiden können. I 
Sie bekommen schon deswegen Re- p 
spekt vor uns, weil wir jedes Jahr p 

wiederaufderFrankfurter Buchmesse I 

auftauchen. Sie wissen ja nicht, daß 
wir nicht wie sie in teuren Hotels 
wohnen sondern bei Freunden, die 
uns unterstützen. Dann: obwohl es 
sehr bequem ist im Ghetto, ein Verlag 
muß darüber raussehen. Muß sich 
Respekt verschaffen. Du mußt deine 
Autorinnen dazu verpflichten, etwas 
für den Verlag zu tun. Die Autorinnen 
wissen, daß wenn du nicht überlebst, 
werden diese Art von Büchern nicht 
mehr herauskommen sehen, nicht nur 
ihre eigenen, auch alle ähnlichen. 
Deshalb hat Black Rose sich nie 
geniert, die Hilfe der Autorinnen 

anzufordem. Und zwar die Hilfe aller 

Autoren, ganz besonders aber die der 
berühmtesten. Wir fragten sie, ob sie 
nach Monteal kommen, um Vorträge 
zu halten, ob sie Lesungen machen 


etc. - alles, um Black Rose konkret zu 
unterstützen. Das ist sehr, sehr 
wichtig. Das ist eine kurze Antwort, 
ohne in Details zu gehen, wie man 
z.B. neue Leserschaften erschließt. 
Eine besondere Sache in Canada läuft 
über die neuen Medien, du hast eine 
Telefonnummer in den US A und Ca¬ 
nada, wo jederundjede, obein Buch¬ 
laden, eine Bibliothek oder eine 
Privatperson anrufen kann, ihren 
Buchwunsch draufsprechen kann, 
ihre Kreditkartennnummer angibt 
und anschließend das Buch erhält, 
weil diese Bestellung an uns weiter¬ 
geleitet wird, und wir sie ausliefem. 
Black Rose hat auch eine E-Mail- 
Adresse oder ist im Internet, die 
Nummern sind in unseren Katalogen 
verzeichnet. Im Internet haben wir 
auch Zusammenfassungen oder 
Kurzvorstellungen eingespeichert, 
damit die Leute genau informiert 
werden, ob sie dieses Buch lesen 
wollen. Wir müssen einfach diese 
verschiedenen Wege wahmehmen, 
um Bücher zu verbreiten. Denn das 
Netz der Buchhandlungen wird in 
allen Ländern kleiner und kleiner. Es 
wird beherrscht von den Großen im 
Geschäft und diese unterliegen voll¬ 
kommen dem kapitalistischen Markt¬ 
geschehen, dem Profit, d.h. sie wollen 
unterhaltsame Bücher. Die Bücher 
sind Unterhaltungsware geworden, 
es geht nicht mehr darum, daß sie ein 
Leben bereichern oder daß sie Neues 
erschließen, in ihrem Sinne geht es 
um die bloße Unterhaltung. Es 
kommen mehr Farben, mehr 
Fotographien, die Buchformate wer¬ 
den größer usw., und diese Art Bücher 
finden sich dann in allen Buchhand¬ 
lungen. Dieser Prozeß findet gerade 
in Deutschland statt, aber vor ca. 10 
Jahren hatten wir diesen Prozeß be¬ 
reits in Canada. Der kleine Buchladen, 
der ein Sortiment wirklich wichtiger 
Bücher führt, ist die Ausnahme. Es 
wird solche Läden noch geben, und 
es ist auch sehr wichtig für einen 
Verlag, daß er mit den ca. 50 wichtig¬ 
sten unabhängigen Läden möglichst 
persönliche Kontakte unterhält. In 
Canada haben wir dieses Netzwerk 
dahingehend ausgebaut, daß wirdiese 
ca. 50 Läden rabattmäßig anders be¬ 
handeln als die kommerziellen Buch¬ 
handlungen. D.h. sie unterstützen uns 
und wir unterstützen sie, aber das ist 


nicht genug, du mußt viele verschie¬ 
dene Wege gehen, um zu überleben. 
Wir geben z.B. auch sehr viel mehr 
Geld für Anzeigen aus als früher und 
in jeder Anzeige taucht diese inter¬ 
nationale Telefonnummer auf. Wenn 
du all diese Dinge machst, die j sehr 

ermüdend sind und viel Zeit verschlin¬ 
gen, istes möglich zu überleben, nicht 
mehr. Wir reden ja nicht über Profite. 

Für wichtig halte ich auch, daß wir 
unsere Erfahrungen weitergeben und 
jemanden dafür interessieren, die 
Arbeit so fortzusetzen, denn wir sind 
sterblich. Deshalb wünsche ich mir 
auch eine regelmäßige Zusammen¬ 
kunft aller radikalen Verleger am 
Rande einer Buchmesse, denn es gibt 
im kapitalistischen Markt viele Dinge, 
die ähnlich funktionieren und die wir 
voneinander lernen können. 

Frage: Du hast zB. mit Al Gedicks 
Buch "The New Resource Wars - 
Kämpfe der Ureinwohner und der 
Umweltschätzer gegen die multi¬ 
nationalen Konzerne" auch mehrere 
Titel mit speziell canadischen Themen 
imProgramm. Wie wurden die ange¬ 
nommen? 

Dimitri: Neben den zwei Grundpfeil ern 
unseres Programms sind die! kri¬ 
tischen und antiautoritären Unter¬ 
suchungen zur kanadischen Gesell¬ 
schaft wichtiger Bestandteil unserer 
Arbeit. Das brachte uns in Canada 
öffentliche Akzeptanz als Verlag. 
Unser theoretisches Hauptinteresse 
bestehtdarin, ein tieferes Verständnis 
dafür mitzuentwickeln, wie die fort¬ 
geschrittene industrielle kapitali¬ 
stische Gesellschaft heute aussicht. 
Wir veröffentlichen also sehr wenig 
über die "Dritte Welt" oderdie "Süd¬ 
liche Hemisphäre". Die Linke ver¬ 
öffentlicht sehr viel dazu. Aber die 
Mehrheit der linken Verlage veröf¬ 
fentlicht wenig oder nichts Wichtiges 
zum Verständis unserer eigenen Ge¬ 
sellschaft. Kaum je wird analysiert, 
wie der zeitgenössische Staat jede 
Opposition absorbiert und verdreht. 
Oft denken wir, daß wir etwas Wich¬ 
tiges tun und merken erst später, daß 
wir die Marionette der sozialen, Öko¬ 
nom ischen und politischen Kräfte 
unsererGesellschaftsind. Wirmüssen 

verstehen, was neu an unserer Ge¬ 
sellschaft ist und wir wir dies neu 
bekämpfen müssen. 


[50] SF 1/96 





Frage: Kannst Du die Rolle von "Our 
Generation " für die Entwicklung 
dieser Arbeit näher beschreiben und 
auch eine Einschätzung darüber ge¬ 
ben, ob mit der Zeitschrift eine Aktua¬ 
lisierung des Anarchismus gelang? 
Und schließlich, kannst die Organi¬ 
sation der Zeitschrift ein wenig be¬ 
schreiben? 

Lirnitri; Viele Verfassern von Artikeln 
fiel das Schreiben kurzer Sachen für 
Our Generation leicht, aber sie für 
e in Buch zu ermutigen, war und ist 
e ine ganz interessante Sache. Ein 
Buch hatein "anderesLeben" alseine 
Zeitschrift. Ich habe die Erfahrung 
gemacht, daß die Lesegewohnheiten 
zwischen Zeitschriften und Büchern 
sehr unterschiedlich sind. Leute, die 
Zeitschriften lesen, lesen auch Bü¬ 
cher, aber Bücherleserinnen lesen 
n icht notwendigerweise auch Zeit¬ 
schriften. 

Aber es stimmt, bei vielen Buchau- 
torlnnen, mit denen wir arbeiteten, 
er gab sich der erste Kontakt über die 
Zeitschrift. Beispiele dafür gibt es 
viele. 

Eine Zeitschrift erlaubt es aber auch 
Politisch verschieden orientierte Leu¬ 
te zusammenzubringen, dabei ist das 
Spektrum breiter als das des Verlags, 
^ie Zeitschrift organisierte eine jähr¬ 
liche Zusammenkunft, zu der viele 
Mitarbeiter kamen. Es war ein Feier- 
tegswochende im September, an dem 
'vir uns drei, vier Tage lang auf dem 
Land treffen konnten. Dort wurde 
diskutiert und dort wurde die weitere 
Vorgehensweise besprochen und 
entschieden. Diese Leute beobachte¬ 
ten alle neuen politischen und sozialen 
Entwicklungen, was dann natürlich 
nuch darauf Einfluß hatte, was wir 
bei Black Rose herausbringen woll¬ 
ten. 

Aber letzten Herbst bin ich diese viele 
Arbeit müde geworden und habe den 
Leuten mitgeteilt, daß ich mit der 
Herausgabe der Our Generation nicht 
^ehr weitermache. Wenn es jemand 
a uderes übernehmen könne, gut, aber 
'vir haben dann Our Generation nach 
30 Erscheinungsjahren beendet. 

p 

a ge: Gab es keine Gruppe, die die 
^eitere Herausgabe übernehmen 

konnte? 

Limitri: Es gab keine Gruppe. Es gab 



S usan L. Brown in Toronto oder Mike 
Achbarin Vancouver, die interessiert 
waren und es gab eine weitere Person 
aus einer Kleinstadt in Ontario, die 
weitermachen wollte. Die Schwie¬ 
rigkeit ist doch, wenn du damit an¬ 
fängst, müßtest du ein Jahr nach Mon¬ 
treal kommen und an der Zeitschrift 
direkt mitarbeiten und deine Erfah¬ 
rungen sammeln. Danach könntest 
du nach Toronto oder Vancouver zu¬ 
rückgehen und von dort aus weiter¬ 
machen. Aber das war praktisch nicht 
machbar. 

Frage- Wie war die Reaktion der Le¬ 
serschaft auf deine Einstellungsan¬ 
kündigung? 

Dimitri: Es gab Reaktionen. Viele 
wollten, daß wir weitermachen. Aber 
schon vor 5 Jahren wollte ich auf¬ 
hören, und da hatte es viele Proteste 
gegeben, ich solle weitermachen, es 

seidieeinzigeemstzunehmendeanar- 

chistische englischsprachige Zeit- 

schriftmitAnspruch auf Analyse usw. 

. und ich habe weitergemacht. Aber 
diesmal war es endgültig. 


hst du in der neueren Zeit- 
Society and Nature eine 
erin? Welche Unterschiede 


Dimitri: Society andNature ist eine sehr 

gutgemachteZeitschrift. Aber Society 
and Nature ist keine anarchistische 
Zeitschrift, es ist noch nicht mal eine 


sozialökologische Zeitschrift Erin¬ 
nert euch an den Untertitel, wo es 
heißt, daß die Zeitschrift eine Zeit¬ 
schrift für die "politische Ökologie" 
sei. "Politische Ökologie" ist aber ein 
viel weitgefaßterer Begriff als "So¬ 
ziale Ökologie". "Politische Öko¬ 
logie" umfaßt z.B. prinzipiell auch 
alle GRÜNEN, alle Umweltschützer 
etc. Natürlich enthält die Zeitschrift 
eine Vielzahl sozialökologischer 
Artikel und das ist sehr wichtig. Der 
internationale Herausgeber, Takis 
Fotopoulos, sieht sich selbst auch als 
Sozialökologen. Auch der Herausge¬ 
ber der englischsprachigen Ausgabe, 
Pavlos Stavropoulos, sieht sich als 
Sozialökologe. Aber ich glaube, daß 
die Zeitschrift weiter entwickelt wer¬ 
den muß. Sie muß außer in Griechisch 
und Englisch auch in anderen Spra¬ 
chen erscheinen. Und darin liegt die 
Chance, daß es verstärkt ein sozial¬ 
ökologisches, d.h. in der Konsequenz 
ein mehr libertäres Organ wird. Aber 
ich denke trotzdem, daß es keine 
Nachfolgezeitschrift für Our Gene- 


Aufkleber „gegen den Strom 11 
von „Anarchie“ bis „Zukunft“. 
115 versch. Motive. Prospekt bei 
P.R.O. Peter Rose, 
Herzogstr. 73/IV, 80796 München. 
Wir drucken und entwerfen auch 
nach Euren Vorlagen + Ideen. 
T.089/3081235 Fax 089/3081854 



SF 1/96 [ 51 ] 











zentrieren Machtinstitutionen wirk¬ 
lich zu verändern, damit meine ich 
Handlungen, die darüber hinaus¬ 
gehen, vor einem Gebäude einer zu 
verändernden Institution zu demon¬ 
strieren. Oder ich meine die Arbeit 
mit normalen Leuten, in Wohn- oder 
Produktionskooperativen oder er¬ 
zieherischen Bereichen auf lokaler 
Ebene. Allgemeiner: alles was auf 
lokaler Ebene für eine Einflußnahme 
der Bürger offen und erreichbar ist, 
sollte von Anarchistinnen konstruktiv 
genutzt werden, um die Grenzen der 
Teilhabe und Mitsprache immer 
weiter auszudehnen. Immer in die 
Richtung von Selbstorganisation und 
Selbstverwaltung, das berührt dann 
irgendwann auch die Struktur der 
Stadtverwaltung und deren Art der 
Entscheidungsfindung. Wenn wir 
dies nicht tun und in unseren Cafes 
und kleinen verrauchten Zentren unter 
uns bleiben und über die nächste 
Demonstration diskutieren, drehen 
wir uns im Kreis und warten auf die 
Revolution. Man kann aber nicht auf 
die Revolution warten, man muß 
vielmehr täglich konstruktiv für die 
Veränderung arbeiten. 

Ich kenne viele Leute, die mit mir 
einer Meinung sind, aber leider gibt 
es eine Kluft zu vielen anderen, die 


dem A im Kreis folgen. 

Frage: Gab es viele Konflikte innerhalb 

der anarchistischenBewegungwegen 

dieser Haltung? Oder andersherum 

gefragt: Du hast mit der kommunalen 

Gruppe "Ecology Montrdal" konkrete 
Erfahrungen gemacht und dich auch 
bei den Kommunalwahlen als Stadtrat 
für Montrial zur Wahl gestellt. Nach - 
dem dieser Wahlkampf nun vorüber 
ist, du knapp gescheitert bist, kannst 
du vielleicht nachträglich deine 
Erfahrungen einschätzen? Hast du 
mehr politischen Einfluß entfalten 
können , als als Herausgeber einer 
Zeitschrift und als Verleger oder als 
Mitarbeiter in der lokalen Wohn - 
Kooperative? In welcher Hinsicht war 
die Kandidatur für Dich die viele 
Arbeit, den Streß und denÄrgerwert? 

Dimitri: Es ist richtig, daß ich Schrift¬ 
steller, Herausgeber und Verleger bin, 
aber ich war immer davon überzeugt, 
- seit meinem 15. Lebensjahr, daß 
wenn ich ein emstzunehmender In¬ 
tellektueller sein wollte, daß ich dann 
auch ein ernsthafter Aktivist sein 
müßte. Aktiv in konkreten organi¬ 
sierten Initiativen, die etwas verän¬ 
dern wollten. Nur wenn du die Er¬ 
fahrung hast, kannst du auch die wei¬ 
terbringenden theoretischen Beiträge 
verfassen. Es muß eine Beziehung 
zwischen Theorie und Praxis geben, 
das ist meine Überzeugung. Und das 
ist auch meine Haltung zur gegen¬ 
wärtigen anarchistischen Bewegung- 
die Praxis vieler Anarchisten heute 
ist kontraproduktiv, sie rennen feegen 
eine Wand, sie gehen nicht weiter, sie 
verharren in der Negation, sind anti, 
anti-, anti-... - all das ist wichtig, aber 
du mußt auch sagen können, wofür 
du bist! Du mußt auch in der Lage 
sein, die konstruktive Seite des Anar¬ 
chismus aufzuzeigen. In dieser Hin¬ 
sicht ist in meinen Augen der | wich¬ 
tigste zeitgenössische Denker, der für 
eine heutige anarchistische Politik¬ 
fähigkeit Hinweise in die richtige 
Richtung gibt, Murray Bookchin. Er 
ist einerseits ein wichtiger Philosoph* 
andererseits ein wichtiger politischer 
Denker. Er präsentiert eine philoso¬ 
phische Gesamtsicht der ökologi¬ 
schen Krise in "Social Ecology " u nd 
er definiert in seinem wichtigsten 
Buch " Urbanization without Cities 

(dt. »Die Agonie der Stadt«, erscheint 


ration ist, weil Society and Nature 
z.B. niemalshistorischeUntersuchun- 
gen zu anarchistischen Experimenten 
beleuchten würde, wie wir das mit 
der Ukraine, Spanien, Portugal oder 
Frankreich 1968 getan haben. Ich den¬ 
ke andererseits, daß es wichtig ist für 
die Menschen, diese historischen 
Beispiele und Erfahrungen kennen- 
zulemen, sich im Kontext zu sehen 
und dadurch mehr über die eigene 
Gegenwart zu wissen, in der sie selbst 
operieren. 

Aber ich denke, daß zeitgenössische 
Anarchisten bei Society and Nature 
mitarbeiten sollten. Ich glaube näm¬ 
lich, daß eines der Probleme der zeit¬ 
genössischen Anarchisten darin be¬ 
steht, daß sie zu sehr auf ihre lokalen 
und politischen Ghettos beschränkt 
bleiben. Sie sind entweder gefangen 
vom "klassischen Anarchismus" oder 
vom "Protest-Anarchismus”. In die¬ 
sem Gefangensein scheint mir das 
Hauptproblem des zeitgenössischen 
Anarchismus zu liegen, es kommt 
keine wirkliche "Politik" aus dieser 
Bewegung, d.h. sie greifen außerhalb 
ihres eigenen Milieus nicht wirklich 
politisch ein. Mit Eingreifen meine 
ich Handlungen, die sich darauf kon¬ 


j [52] SF 1/96 

j 

| 

i 


[ 

i 












endlich Ende März 1996 im Trotzdem- 
Verlag, Grafenau, Anm. SF-Red.) die 
Politik, die sich aus dieser Philosophie 
ableitet, mit dem Konzept des liber¬ 
tären Kommunalismus. 

Wie man aber auf lokaler Ebene eine 
organisierte und programmatische 
Bewegung schafft, mit der man dieses 
Konzept in die unmittelbare Praxis 
umsetzt, haben wir in Montreal aus- 
probiert. Nach jahrelangen Aktivi¬ 
täten im Stadtteil, in den Nachbar¬ 
schaften wie z.B. den Wohnkoope- 
r ativen, haben wir versucht in dieser 
hochmaterialistischen Gesellschaft, 
in der die Menschen im Wesentlichen 
nur noch an ihrem eigenen Leben 
Interesse haben und kein öffentliches 
Leben mehr pflegen, miteinerGruppe 
v on Leuten libertären Kommunalis- 
m us in die Praxis umzusetzen. Wir 
Wurden als Individuen bekannt, auch 
als Anarchisten, - jeder, der mich 
könnt, weiß, daß ich Anarchist bin. 
Unter dem Strich waren wir nicht 
allzu erfolgreich. Wir gründeten 1990 
e iue kommunale Liste, die Ecology 
Montrdaf mit einem sozialökolo¬ 
gischen Programm und nahmen in¬ 
zwischen zweimal an den Stadtrats¬ 
wahlen teil, um eine kritische Oppo¬ 
sition in den Stadtrat zu bekommen. 
Wir bekamen zwar beim zweiten Mal 
m ehr Stimmen als zuerst, aber ohne 
das Verhältniswahlrecht, das es in 
Nordamerika nicht gibt, ist es äußerst 
schwierig irgendjemand durchzube¬ 
kommen. Diejenigen, die gewählt 
Wurden (es handelte sich um eine 
faktische Listenverbindung mit einer 
anderen grünen Gruppierung, von der 
z ^ei den Sprung schafften; SF-Red.) S ind 
in ihrerpolitischen Haltungnichtallzu 
klar. Das Wahlsystem fördert eben 
e ine ganz bestimmte Art von Per¬ 
sonen. Es geht nach dem Aussehen 
Un d nach den Versprechungen, die 
sic machen. Wenn du also nicht die 
"richtigen" Dinge sagst und nicht den 
richtigen" Zeitpunkt abwartest und 
überflüssigerweise auch noch nicht 

'richtig" aussiehst,bekommstdü auch 
uicht die Aufmerksamkeit der Me¬ 
dien, die nötig wäre, damit Leute auf 
dich aufmerksam werden. Das war 
e ine der Erfahrungen. Die andere war, 
daß wir eine Basisorganisation auf- 
riauen wollten, die ihren Schwerpunkt 

a uch auf die Basisarbeit legt. Die 
Interessen der Grünen aber gingen in 
e ine andere Richtung; ich denke, das 



ist in Deutschland ganz ähnlich, in 
Canada gibt es nicht so viele, aber 
diejenigen, die akti v sind, interessie¬ 
ren sich mehr für die Politik auf na¬ 
tionaler Ebene bzw. der Ebene der 
Provinzen und weniger für kommu¬ 
nalen Einfluß. Sie reden zwar von 
Basispolitik, aber sie verstehen nicht, 
was damit gemeint ist. Wir waren in 
der Überzeugungsarbeit bei den Grü¬ 
nen leider wenig erfolgreich, und 
konnten nicht viele dazu bewegen, 
bei unserem Experiment mitzuma¬ 
chen. Viele halten auch die Ideen von 
Murray Bookchin für zu radikal, für 
zu anarchistisch. Während uns die 
Anarchisten wiederum Verrat vor- 

werfen. . . 

Andererseits ist das Beispiel von 
Montreal bislang der am weitesten 

vorangetriebene Versuch, sozialöko¬ 
logische Ideen in die politische Praxis 
umzusetzen. Ich kenne keine andere 
Stadt, in der mehr versucht worden 
wäre.’ Andererseits ist der historische 
Zeitpunkt sehr ungeeignet. Ganz all¬ 
gemein schwierig aufgrund des 
gegenwärtigen Zustands des Kapita¬ 


lismus und speziell schwierig mo¬ 
mentan in Montreal, denn Montreal 
liegt, ich wünschte.es läge woanders, 
aber es liegt in Quebec und die poli¬ 
tische Frage, die dort derzeit als ein¬ 
zige zählt, ist der Nationalismus, der 
französischsprachige Separatismus 
vom englischsprachigen Canada. 
Leider werden wir auch von außen 
nicht motiviert, es gibt keine solchen 
Experimente in Frankfurt, London, 
Milano, Glasgow, Athen oder in 
Städten der USA. Überall gibt es 
Gespräche, viele Diskussionen, aber 
niemand beginnt mit den ersten orga¬ 
nisatorischen Schritten, noch nicht- 
mal um einen emstzunehmenden 
Diskussionszusammenhang aufzu¬ 
bauen. Ich weiß nicht, warum? Es 
könnte Unreife sein oder auch Feig¬ 
heit. 


SF 1/96 [53] 









Frage: Um diesen Zustand zu verbes¬ 
sern , gibt es jetzt einen Plan ein So¬ 
zialökologisches Zentrum in Grie¬ 
chenland aufzubauen. Wie weit ist 
dieses Projekt? 

Dimitri: Es ist sehr wichtig für die Euro¬ 
päer zusammenzukommen, zusam¬ 
men zu diskutieren, gerade wegen 
der vielen verschiedenen Sprachen. 
Man kann die GRÜNEN für vieles 
kritisieren, aber sie haben wenigstens 
ein internationales Büro und treffen 
sich auf internationaler Ebene regel¬ 
mäßig in Brüssel oder Straßburg. Die 
Sozialökologen haben das bislang 
nicht geschafft. Bislang fällt diese 
Verbindung der Zeitschrift Society 
and Nature zu, es gibt neben der 
griechischen und englischen Ausgabe 
demnächst eine spanische, die in 
Uruquay herausgegeben werden wird. 
Aber das muß ausgebaut werden und 
es müssen direkte Kontakte her. Es 
gibt ja in den USA, in Burlington das 
Institut für Soziale Ökologie und es 
gibt ein sozialökologisches Zentrum 
in Australien und es gibt ein Institut 
für politische und soziale Ökologie in 
Chile und es wird bald eines in 
Montevideo gestartet. Selbst zu dem 
Zentrum in Nowogorod (vgl. SF 3/94 
(Nr JO) Interview mit VadimDamier) gibt 
es Kontakte. Aber es gibt in ganz 
Europa keine direkte Anlaufstelle. 
Deshalb denke ich, daß es Zeit wird, 
ein solches zu gründen. 

Frage: Wie soll es arbeiten , was wären 
seine Aufgaben? 

Dimitri: Es soll Leute zusammenbrin¬ 
gen, um politische Programme zu 
diskutieren. Es soll Kurse und Vor¬ 
träge anbieten, um mehr über die ra¬ 
dikale Soziale Ökologie zu erfahren. 
Und es soll spezifische Veranstal¬ 
tungen ausrichten, wo ganz besürhmte 
Leute hinkommen, die ernsthaft an 
Projekten arbeiten, seien es Zeit¬ 
schriften, Bücher oder politische Ak¬ 
tionen. 

Da die erste wichtige Zeitschrift für 
Soziale Ökologie in Griechenland 
herausgegeben wurde, liegt es nahe 
auch das Institut in Griechenland zu 
gründen, zumal dies z.B. im August 
ein Platz ist, wo jeder gern hinfahren 
möchte. 

Die griechischen Genossen müssen 
motiviert werden, dies zu tun. Sie 


haben die Fähigkeit dazu und auch 
einige lokale und finanzielle Möglich¬ 
keiten. Ein Vorteil ist auch, daß die 
Grünen dort nicht sehr stark sind, so 
daß man leichter mit einer sozial¬ 
ökologischen Position etwas auf¬ 
bauen kann, ohne gleich Gefahr zu 
laufen, daß eine Partei daraus wird. 
Zuletzt gibt es noch einen theoreti¬ 
schen Hintergrund: wie ihr wißt ist 
vieles aus der Argumentation für 

einen libertären Kommunalismus aus 
der griechischen Demokratievorstel¬ 
lung der Polis abgeleitet. Die ganze 
Frage der direkten Demokratie z.B. 
Es geht quasi um die Wiedereinfüh¬ 
rung dieser Inhalte in die grünePolitik 
und in das libertäre Ideengut. 

Wir reden oft über anarchistische 
Organisationsprinzipien im Anarcho¬ 
syndikalismus, aber es gibt wenig 
Diskussionen über anarchistische 
Prinzipien in einer anarchokommu- 

nistischen Gesellschaft, wirreden da¬ 
rüber, daß Vollversammlungen Ent¬ 
scheidungen treffen, daß es Nachbar¬ 
schafts- und Stadtteilversammlungen 
gibt, aber dann wird es schon vage. 
Ich denke, wir müssen die radikalen 
demokratischen Strukturen der Ver¬ 
gangenheit einbeziehen, wie kamen 

sie zusammen, wie trafen sieEntschei- 

dungen auf lokaler Ebene. In Athen 
hatten sie viele konkreten Möglich¬ 
keiten'direkter Teilnahme entwickelt. 

Man muß sich nur daran erinnern 
daß von 110.000 Einwohnerinnen im 
antiken Athen immerhin 60.000 
politischen Einfluß wahrnehmen 

konnten, oder daß eine Versammlung 

mindestens 6000 Anwesende benö¬ 
tigte, um beschlußfähig zu sein. Wie 
lief das praktisch? Wie beteiligten 
sich 6000 Menschen? Was waren die 
Mechanismen? Wir sollten das stu¬ 
dieren und diskutieren, und es im 
Computerzeitalter in Zusammenhang 
damit bringen, was dies praktisch für 
ein anarchistisches Gesellschaftspro¬ 
jekt bedeuten kann. 

Frage: Du hast uns bereits davon er¬ 
zählt, daß es in Nordamerika politi- 
sche Differenzen zwischen den So¬ 
zialökologen und der anarchistischen 
Bewegung gibt. Nun gehört die grie¬ 
chische anarchistische Bewegung 
eher zu den stärksten in Europa. Wie 
schätzt Du, als regelmäßiger Be¬ 
sucher Griechenlands, die Situation 
ein? Bestimmen ebenfalls die Diffe¬ 


renzen den Umgang miteinander oder 
gibt es einen Austausch, eine Diskus¬ 
sion? 

Dimitri: Es gibt Verbindungen, aber 
nicht viele. Die griechische anarchi¬ 
stische Bewegung ist leider sehr stark 
von den deutschen Autonomen 
beeinflußt. Deshalb haben sich die 
griechischen Anarchisten seit vielen 
Jahren im Protest erschöpft. Es sind 
vor allem junge Menschen, die zu 
Demonstrationen gehen, Bankenfen¬ 
ster ein werfen und auch Straßen¬ 
kampfdurchführen. Es läuft dann die 
alte Spirale: der Staat verschärft die 
Repression, es gibt Märtyrer und um 
die Märtyrer entwickelt sich heuer 
Protest. Aber diese Bewegung ist eine 
Jugendbewegung, sie ist mit dem 
Alltag der arbeitenden Bevölkerung 
nicht verbunden, hat damit überhaupt 
nichts zu tun. Sie haben keine Basis 
und keine Resonanz in den Nachbar¬ 
schaften; die Griechen lesen in den 
Zeitungen darüber und die Reaktion 
ist, »ach die Anarchisten haben mal 
wieder etwas niedergebrannt, mal 
dies, mal das...« Das führt zu nichts. 
Auf der anderen Seite gibt es einige 
anarchistische Verleger und Intellek¬ 
tuelle, die mit Sozialökologen Kon¬ 
takt haben, gelegentlich gibt es Zu¬ 
sammenarbeit, aber es könnte noch 
verstärkt werden. Es gibt anarchi¬ 
stische Buchläden, dort läuft ebenfalls 

Austausch, aber eben nur unter Ein¬ 
zelnen, nicht mir der Jugendbewe¬ 
gung als solcher. Um es zu intensi¬ 
vieren braucht es einen Anlaufpunkt. 
Seit dem internationalen anarchisti¬ 
schen Kongreß in Venedig 1980 hat 

es nur noch einen emstzunehmenden 

internationalen Austausch gegeben, 
den in Portugal, als es um das Thema 
" Neue Technologien und Freiheit 
ging, seit Lissabon gab es außerhalb 
von Spanien keine wichtigen interna¬ 
tionalen Treffen mehr. Ich denke, daß 

die Sozialökologen jetztdieInitiative 

ergreifen sollten. 

Kontakt: B lack Rose Books, CF. 1258, Succ. 
Place duParc, Montreal, Quebec 7/2 W 
2R3, Canada 

Der SF beschafft alle Bächer aus dem Black 
Rose Verlag. Bereits auf Lager haben 
wir: 

DimitriosRoussopoulos: Political Ecology> 
180 S., 30.-DM 

Übersetzung: Wolf gang Ilaug 












Zukunft der Stadt: LA. und Berlin 


lischen Arbeits- 
len Sicherheits- 


Stadt und die Beschäftigung damit ist 
angesagt. Radikale Linke beschäftigen 
sich nicht seit dem Aufkommen von 
Hiphop und den Riots 1992 mit Los 
Angeles. In der linksliberalen Uni- 
Stadtsoziologie ist die “Zukunft des 
Urbanen” angesichts der sozialen und 
ökonomischen Umbrüche, die auch als 
Übergang zum Postfordismus ver¬ 
standen werden können, seit jeher 
Thema. Das Buch “City of Quartz” von 
Mike Davis z.B. wurde von der Frank¬ 
furter Rundschau über das Musik¬ 
magazin “SPEX” bis hin zur sozial- 
revolutionären “wildcat” gelesen und 
gelobt. Das im Herbst 1995 erschienene 
Buch “Stadt der Zukunft - Zukunft der 
Stadt” schwimmt einerseits auf diesem 
Trend mit, andererseits hebt es sich 
durch seinen Inhalt etwas davon ab. 

Herausgeber Sträter, der dem nach¬ 
universitären Theorie-Proletariat an¬ 
gehört und mehrere Jahre bei der Frei¬ 
burger Internationalismuszeitschrift 
“Blätter des Iz3W” mitarbeitete, hat in 
U.A. selbstlnterviews geführt undTexte 
v on US-amerikanischen Intellektuellen 
Und Basisaktivistinnen zusammenge¬ 
stellt. Gleichzeitig versucht er durch 
die Mitveröffentlichungen von fünf 
Aufsätzen über Berlin, einige markante 
Entwicklungen in dieser Stadt heraus¬ 
zuarbeiten und Parallelen und Unter¬ 
schiede zwischen diesen beiden Metro¬ 
polen zu benennen. 

U.A. wird als der Prototyp der Stadt 
des 21.Jahrhunderts begriffen: Die 
Bläche der Stadt ist nach Einkommen 
der dort Wohnenden räumlich auf- 
geteilt, in ihr gibt es die meisten 
Obdachlosen in den USA, die Umwelt 
^ird permanent vergiftet und der kom¬ 
munale Staat hat sich aus seiner Ver¬ 
antwortung für die Gesellschaft zu¬ 
rückgezogen. L.A. ist die Hauptstadt 
der “Dritten Welt” und eine der “World 
Oities” der Metropolen zugleich, L.A. 
wird gleichzeitig de- und reindustria- 
Bsiert und es ist wie kaum eine andere 
Stadt in die globale Wirtschaft inte¬ 
griert. L.A. istZiel und Auslöser großer 
Bewegungen von Wanderarbeiterinnen 
Un d ein Reich der Schattenarbeit und - 
Ökonomie der arbeitenden Armen (“la- 
bouring poor”) und es ist auch durch 
sein Polizei- und Gefängnissystem zu 
beschreiben bzw. in Filmen massen¬ 


wirksam beschrieben worden. 

All dieseEntwicklungen und sozialen 
Konflikte werden in den einzelnen In¬ 
terviews und Artikeln beleuchtet und in 
Beziehung gesetzt, Das Spektrum der 
Autorinnen zu L.A. ist sehr breit, es 
reicht von Edward Soja, Professor für 
Stadt- und Regionalplanung an der 
Universität von LAüber die deutsche 
Stadtsoziologin Margit Mayer bis zu 

alten Ex-Black-Panther-Mitgliedem, 

die heute noch in der Community aktiv 
sind. Interessant istder Beitrag “Racism 
comes in Birkenstocks” weil er zeigt, 
daß die Kontrolle flber Wasser, Luft 
undMobilitätein wesentliches Element 
der politischen Machtverhältnisse in 
L.A. ist und wie Umweltschäden auf 
bestimmte ethnischefund soziale Re¬ 
gionen und Gruppenabge wälzt werden 

und “Umweltschutz” somit rassistisch 
wif 


2 


<§ 

53 

r 

o* 

3T 

I 

Cjs 

ci? 


Das Buch liefert zur Beschäftigung 
mit Ökonomie und sozialen Kämpfen 
im städtischen Raum aus unterschied¬ 
lichen Bereichen und Blickwinkeln 
weitere Materialien. In einigen Bei¬ 
trägen oder Interviews mit Professoren 
wird mit soziologischen Begriffen und 
Wortneuschöpfungen um sich gewor¬ 
fen, grundsätzlich ist ein eher unauf¬ 
geregter Grundtenor vorherrschend. 
Sträter propagiert durch die Textaus¬ 
wahl keine “politische Linie”, er lässt 
unterschiedliche Ansichten zu Wort 
kommen: währendeinige Beiträgemehr 
beschreiben oder die Selbstorga¬ 
nisierung “von unten” propagieren, 
verorten dritte die treibenden Kräfte 
eher im (internationalen) Kapital oder 
fordern gar - wie der Beitrag zu Ob¬ 
dachlosigkeit in Berlin - mehr sozial¬ 
staatliche Sicherung. Diese Vielfalt 


Der Teil zu Berlin wM mit einem 
Beitrag eingeleitet, der die Verände¬ 
rungen Berlins in den letzten funfJalyen 
darstellt und die Entwicklung L.A. s 
als Raster zur Betrachtung Berlins 
benutzt. Berlin ist “Frontstadt an der 

kontinentalen Armutsgrenze zu Polen 
und den anderen osteuropäischen S taa 
ten und Ziel von Migration wie es L.A. 

ÄÄÄve« 

und Arbeitsiparktlage, jJie sozml- 


räumliche 
Berlin breitet si 
aus, was 

von Berlin und B 
lisiertwird. Im Berlm-'I 
noch Beiträge zu po 
migrantlnnen, zur ne 
und Polizeipolitik u“' 

keit. 


könnte als Beliebigkeit ausgelegt 
werden, ist es aber nicht, da die Zu¬ 
sammenstellung nur die Vielfalt der 
Entwicklungen, Orte und sozialen 
Kämpfe in der Stadt abbildet. Sie 
verweist auch auf das Bild der Stadt, 
das der und die einzelne/n im Kopf 
haben. Ist L.A. für die einen schillerndes 
Forschungsobjekt, ist es für andere der 
Ort, an dem sie Gewerkschaftspolitik 
unter zu achtzig Prozent illegalen Ar¬ 
beiterinnen machen. 

von Bernd Hüttner 

Frank Sträter (Hrsg.): Stadt der Zukunft, 
Zukunft der Stadt. Berlin - L.A.; im 
Eigenverlag Stuttgart 1995; 160 S., zu 
bestellen für 19,80 DM incl. Porto bei 
Frank Sträter, Spemannstr. 41, 70186 
Stuttgart (Vorkasse, Scheck beilegen!) 











Ä#l 


lilll 


l iljllB 


IgjSlji 


JSCheT Widerstand rischer Wut bis zu einem 'kalten über- . angegriffen: kL 

mütigen Wunsch reichten, diese Ver- mandos nahmen an allen faschistischen 
brecher zu töten.” Treffen nur mit dem einzigen Ziel teil, 

Die faschistische Propaganda konnte sie so schnell wie möglich zu beenden, 
vom beginnenden Kalten Krieg pro- Wenn es nicht möglich war, die Red- 
fitieren. Sie, die immer für ein Bündnis nerplattform umzukippen wurden unter 
mit Deutschland eingetreten waren, demPublikumSäliilä^teiCTäniezettelt, 
mußten sich bestätigt fühlen, wenn um ein solches Chaos zii erzeugen, daß 
Churchill davon sprach, Großbritannien die Polizei schließlich zum Abbruch 
hätte das falsche Schwein geschlach- der Veranstaltung gezwungen wurde, 
tet .als es gegen Deutschland statt gegen Für ihre Arbeit entscheidend war ein 
die Sowjetunion kämpfte. Auch aus den Aufklärungsnetzwerk, mit dem die 
Auseinandersetzungen in Palästina Group 43 jbden faschistischen Zirkel 
versuchten die Faschisten Kapital zu unterwanderte: So kamen sie an wich- 
schlagen. Mittlerweile kämpften dort tige Informationen, milderten sie Iren 
verschiedene Fraktionen der zioni- ArbeiteffekÜvifehindemkohMemZ.B. 
britannien im Harald Kater Verlag fischen Untergrundarmee gegen die wurde eines abends bekannt, däß]eine 
erschienen. Es macht zunächst stutzig, britische Kolonialmacht, was die Fa- Ladung faschistischer Flugblätter in 
wenn von antifaschistischem Wider- sch,sten schamlos für ihre antisemi- einem.bestimmten Buchladen für eine 
stand nach 1945 in einem Land, daß tischen Tiraden nutzten. Dabei profi- Nachtgelagert werden sollte. Mitglieder 
niemals von deutschen Truppen besetzt beiten sie von der britischenRechtslage. der Group 43 hatten sich mit Nach¬ 
war, die Rede ist. Mit dem Argument, die Redefreiheit zu schlüsselnZugangzudiesemBuChladen 

Tatsächlich existierte in Großbritan- verteidigen, schützte die Polizei die verschafft und das gesamte Propa- 
nien seit den 30er Jahren eine faschi- Faschistinnen Hingegen konnten gandamaterialkuzerhand verschwinden 
stischeBewegung.diesichan Mussolini Menschen, die allem durch Pfeifen oder lassen. 

und Hitler orientierte und für eine Zwischenrufen aufgefallen sind, auf Neben der effektiven Verhinderung 
deutsch-britische Kooperation eintrat. Antrag des Redners angezeigt und mit der Faschistinnentreffen setzte sich die 
Diese Bewegung hatte Unterstützer in Geldstrafen oder Bewährungsauflagen Goup 43 zjwei weitere Schwerpunkte. 
Teilen der Industrie und des Königs- |™ gl werden. Für Angriffe auf die Sie machte Druck auf das Parlament, 
hauses, aber auch unter den Tories, der Kednerplattform drohten längere Ge- die Verbreitung Von rassistischer, 
ehemaligen politischen Heimat des ^gfussträfen. Also auch hier die uns faschistischer und antisemitischer! Pro- 
FasChistenführersOswaldMosley. Man ® t Arbeitsteilung. Die Staat- paganda unter Strafe; zu stellen! und 

könnte denken, daß diese Bewegung _ icnen stellen tolerieren die Faschist- fand damit' vor allem bei der Basis der 
spätestens mit der Niederlage des nncn u " d 8®“en um so heftiger gegen Gewerkschaften und der regierenden 
deutschen Faschismus verschwunden nie Antifaschistinnen vor. Labour-Party Unterstützung. Die ianti- 

ist. Das war auch die Meinung der Viele jüdischen Ex-Soldaflnnenwa- faschistische Aufklärung sowohl der 
demobilisierten Soldatlnnen, die jedoch ren zunehmend frustriert über die Öffentlichkeit als auch der fascjiisti- 
schnell eines Schlechteren belehrt wur- »faustische Haltung der offiziellen sehen Basis war ein weiterer Scliwer- 

den. Zwar waren viele aktive Faschisten jüdischen Organisationen,die sich mit punkt. ’' l' lp 

Mhrend des Krieges internierL. Doch Eingaben an die Parlamentarier be- Ab 1947 traten bei antifaschistischen 
Schon 1944 begann die Reorganisation g nü f ten -Sie wollten sich nicht mit pa- Gegenveranstaltungen ehemalige fa¬ 
der faschistischen Strukturen. Und so Plenen Resolutionen an die Regierung schistische Funktionäre als Redner auf, 
mußten die Männer und Frauen, die in begnügen, sondern den Faschistinnen die mit ihrer Organisation gebrochen 
dfen vergangenen Jahren in den briti- J et ® n - . hatten. DiqsebrächtenGruppenintbrnas 

sehen Streitkräften gegen die faschi- Antrnigl946alsdieFaschistenimmer an die Öffent-lichkeit und setzten damit 
stische Bedrohung gekämpft hatten, mehr Zulauf bekommen hatten, ergrif- deren Führung der Lächerltchkeilaus. 
nach Hause zurückgekehrt mitansehen, mn einige die Initiative und gründen Welchen Anteil die Aktionen der 
wie die Faschistinnen wieder ungehin- eme Organisation, die offen war für Group 43 am rapiden Zerfall der fa¬ 
den auf den Straßen aktiv waren. aile ’ Faschismus und Antisemit^- schistischen Bewegung in Großbritan- 
“Aus dem Kino kommend, wo die m “ s bekämpfen wollten, egal welche nien ab 1949 und ihrem baldigen Ver- 
Wochenschau die Leichen von jüdi- P oh ? sche Meinung sie sonst hatten, schwinden in die Bedeutungslosigkeit 
sehen Frauen, Männern und Kindern in Nach stundenlangen heftigen Diskus- hatten, läßt;ÄMi||HI|jiÄrlich 
den Konzentrationslagern gezeigt wur- ® onett über den Gruppennamen kam haben innerfaschistische Rivalitäten 
den, die von Bulldozern in Kalkgruben der pragmatische Vorschlag eines Teil- dazu ebenso beigetragen wie die Vor¬ 
geschoben wurden und dann draußen ne »mers. “Wir sind 43 Leute hier. Also änderungen der politischen Rahmen- 
an FaschiStenver^mhingen vorbei- bedingungen nach dem Abzug der 

zukommen oder Hakenkreuze an jüdi- Vom Mara 1946 bis April 1950führte Briten aus Palästina. Allerdings hat die 

sehe Häuser oder Synagogen geschmiert dieGroup43 einen permanenten Kampf Gruppe ^litpa in 

zu sehen, führte bei diesen ehemaligen gegen d * e Faschistinnen. Bis zu 15 Großbritannien zu schaffen, daß auch 
Söldaten zu Gefühlen, die von chole- faschistische Treffen pro Woche wurden dem/der IfäniAHnlä, MÜChictim/en 


roßbritannien 








— 


SsÜ'll ■ : 


$0mM 




W9§- 


•drängt wurden. Polizei- 


Peter Nowak 


gezeigt hat, daß er überall auf Wider¬ 
stand stoßen würde» 

Einige Informationen reizen zum 
Weiterforschen. So werden deutsche 
Kriegsgefangene erwähnt, die sich stolz 
ihrer SS-Vergangenheit rühmten und 
e ine maßgebliche Rolle in den faschi¬ 
stischen Organisationen spielten und 
schon auf ihre Arbeit in Deutschland 
vorbereitet wurden. Auch ein inter¬ 
zonales braunes Netzwerk* mit 
Kontakten nach Lateinamerika und 
Südafrika wird am Rande erwähnt, 
ebenso die Existenz der esoterischen 
Nazigruppe Ostarte. 

Hier wären Kurzhinweise sinnvoll 
gewesen. Die Kurzbiographien von 
einigen britischen Faschistinnen reichen 
n ur bis 1950 und sind so für weitere 
Recherchen wenig ergiebig. Allerdings 
handelt es nicht um ein Geschichtsbuch 
sondern um den Bericht eines ehe¬ 
maligen Group-43 Mitglieds, der ein 
nichtiges Kapitel der britischen Nach¬ 
kriegsgeschichte dem Vergessen ent¬ 
rissen hat. 


von Peter Nowak 


Morris Beckmann, The 43 Group, Anti¬ 
faschistischer Kampf in Großbritannien 


1946 -1950, HaraldKater Verlag, Berlin 


1995, 206 Seiten, br, 25 DM 


btr. Braunes Netzwerk. Anm. der SF- ; vg 
Redaktion: 

Gemeint ist damit die von Otto Skorzeny 
geführte Organisation ÖDES S A (Orga- ; 
nisation der ehemaligen SS-Ange- gi 

hörigen), die vielen Nazis die Flucht ins ^ 

sichere Ausland, d.h. in den Nahen 
Osten, nach Lateinamerika und ins da- ^ 

malige Franco-Spanien ermöglichte. . 

ScoTzeny selbst hatte als ein Sabotage¬ 
spezialist für das ehemalige Reichs- -wjj 
Sicherheitshauptamt gearbeitet und 

wurde nach dem Krieg Generalvertreter 

der österreichischen Firma VOESt für ^ || 
Spanien und Lateinamerika. Die ^||| 
Organisation ODESSA hatte 
Menschen auch Geld ins. Au$laUd 
geschafft, sie gründete zahlreiche 
men, die als Vehikel für die Reörga- 
nis ation des Faschismus benutzt wurden. ; ;'|j 

Scorzeny und seine illegale Truppe ||l 
waren an zahlreichen faschistischen 
Aktionen und Neugründungen der Nach- ^g||| 
kriegszeit beteiligt, einige haben l§|vgg| 
überlebt und arbeiten heute noch, wie 
z.B. die spanische CEDADE, die 
m Madrid ein internationales Faschi- 
stentreffen organisierte., ’ 





























rdistan Ein Fotobuch von R. Maro 


ausden a 

Kurdlnii 

Türkei, 

dem Iral 

Grenzzii 

bilden. 

Viele 
veröffeij 
Zeitschi: 
änderet! 
ewigwäl 
den Krie 
denWid 
ein umfs 
in “Kure 


in denen 
Aus der 


Hg.: medico international, 128 S„ edition 
ID- Archiv, Bin 1995,28,- DM 


sächlich 
gen und 
iüpft mit 
:heinbar 
reibung, 
ung und 
entsteht 
dichkeit 


Ihre Gesichter sind gezeichnet von der ringer ist beinahe anachronistisch: Es 
Erniedrigung des täglichen Krieges und gibt noch eine (oder wieder?) sozial- 
doch spricht aus den Gesichtern dieser dokumentarische Fotografie. Bilder die 
Frauen eine große Würde. Die Würde soziale.Realität zeigen, wenn auch nur 
des Überlebenskampfes. Kein Schein- diesen einen wirklichen Augenblick 
Szenario wie viele Menschen hier in lang, der im Suchereiner Kamera sicht- 
Deutschlanddenken,sondemeinewirk- bar ist. Nicht weit entfernt vom Ge- 
liche Welt menschlicher Anstrengung^ schdhen, nicht verborgen hinter <fer 
um in ihrem “Kurdistan” leben zu kön- Distanz einer Optik, oder nicht durch 
nen. Diese soziale Realität hat ihre ei- den Blick aufs Exotische verklärt er 
genen Bilder, zum Beispiel: «Kurdische zählt das Buch mit menschlicher Nähe 
Frauen warten auf die Lebensmittel- vom Leben der Kurdinnen. Mit einer 
Verteilung.” Ihr Blick sagt: Wir warten intimen Kenntnis der Verhältnisse Und 
•nur noch einen Moment, dann holen das über sehr lange Zeit hihweg. Über 
wir uns das Notwendige selbst. Das zehn Jahre lang. Mit dem Blick des 
könnte ihre Haltung sein auf dem Foto Vertrauten, des Eingeweihten, des Be¬ 
aus Kurdistan-Irak 1992, mehr als ein teiligten. Solche Fotos kann vielleicht 
Jahr - im Krieg - nach dem Golfkrieg, nur jemand machen, der aus der Feme 

Hier ist kein sozialromantisches kommt, doch der nicht als Fremd«- oitt 
Fotobuch auf der Suche nach Träumen 
entstandet. Allein dieseseine Bildzeigt, 
daß es eine sinnliche und menschliche 
undrespektvolleDarstellungsweise des 
sozialen Alltags gibt, die mehr als nur 
das Elend zeigt. 

Das Unerwartete an dem Fotobuch 
von R. Maro mit Texten von R.Ofte- 




ürUNin 
tann und 
ägen der 
igen, die 
wurden. 
Giftgas- 
mologie 
jm Hus- 
rfen hat. 
Bruder- 
Bürger- 
ressens- 


Kurdist 
die Bon 
UN und 
dort au 
Andere 
angriffe 
hergeste 
sein auf 
Wieder 
krieg in 
krieg d< 
gruppeij 
Ist die 

lieh endlos? Besteht Kurdistan nur aus 
dem Kreislauf von Zerstörung, Vertrei- 
bung, Wiederaufbau? Nein! Diese Bil¬ 
der erzählen auch immer wieder vom 
sozialen Gefüge der Frauen, der Männer 
und ihrer Kinder untereinander, ihrer 
Hoffnung auf ein Leben unter würdigen 
Lebensbedingungen. Eben der Würde 
der Frauen, die ihr Gesicht zur Hälfte 
hinter einem Tuch verdecken und 
scheinbar endlos warten. 


Viele dieser Fotos sind bekannt. Ob 
es die Minenbilder im alltäglichen ge¬ 
wordenen Nachkrieg sind, die so grau¬ 
same Vesrtümmeiungen zeigen oder 
die Flüchtlingsbilder ganzer Familien 


Mit der Auswahl der Texte und den 
detaillierten Kenntnissen von R. Ofte- 
ringer gelingt den Autoren des Buches 

aktuelle Entwicklungen der politischen 
Situation in “Kurdistan” geben können. 

Ein Buch, das Interesse weckt sich mit 

Innen um ihre Vergangenheitund ihre 
Zukunft weiter zu beschäftigen. Ein 

nalistischen Mainstream in Deutsch- 


Foto: R. Maro/ Version 


HerbySachs 

















■ ;. r ; . »• * -Ivjv • •.' ■ *' I ' »' ' . 


VPpPP p ^pflPS'PffPPP?of 






Nachläs! 


4 Hände 


Vier Hände sind zu wenig. Das ist keine 
Hochstapelei, das ist eher gewaltig un¬ 
tertrieben. Dieser Mensch hat minde¬ 
stens 13 Hände zum Schreiben benutzt. 
Und jede Hand an einem anderen Ort, 
in einem anderen Spiel, während anderer 
Ereignisse, atemlos schnell wechselnd, 
von den absurden Episoden eines Stan 
Laurel an der mexikanischen Grenze 
mit acht Flaschen Genever im Koffer 
Ws zu den fein gewobenen Netzen der 
Birma, dem CIA, und allen Klischees, 
die dazugehören. Schneller, besser, 
höher, Paco Taibo II hat sich, ironisch 
zeitgemäß, den Mainstream der Super¬ 
lative als Struktur seines Romans ge¬ 
nommen und herausgekommen ist eine 
wirklich gigantisch anmutende Story. 

Auf der Spurensuche durch dieses 
Jahrhundert hat er gewiefte und hart¬ 
näckige Politgauner mit überzeugten 
Kommunisten während des spanischen 
Bürgerkriegs ebenso gemeinsame Sache 
Aachen lassen wie zwei Journalisten, 
die ihre Geschichten zusammen schrei¬ 
ben, tendenziös, radikal und provokativ, 
heute, gestern und während der ereig¬ 
nisreichen Revolution in Nicaragua. 
Uenn sie sind mehr als Sympathisanten 
dieser Revolution, auch wenn ihnen 
ihre Überzeugung öfters einen Schreck 
e *njagte. Doch der größte Coup ihrer 
Unufbahn gelingt ihnen bei einer eher 
zufälligen Recherche. 

Wußten Sie, daß Trotzki im Exil in 
Mexiko einen Krimi schrieb, ja sich 
danach verzehrte, einen schlüssigen Plot 
Elr seine Geschichte zu entwickeln? 
Haß er sich morgens Notizen vor seiner 
ei gentlichen Arbeit an der Stalinbio- 
8 r aphie machte und sie heimlich, klamm 
und leise in eine gut versteckte Kladde 
schrieb? Mein Grinsen wurde immer 
breiter. Klasse Idee! 

Hoch das sind längst nicht alle 
Absurditäten, die der Roman zu bieten 
bat. Elena Jord#n zum Beispiel, die 
zweimal geschiedene Frau des Jour- 
n alistcn Julio, schreibt seit ewigen 
Seiten immer wieder aufs Neue Disser- 
tetionsvorhaben und reicht sie ein. Sie 
sammelt die Ablehnungen wie Post¬ 
karten. Oder die Episoden über Alex, 
den Chef der Operation Schneewittchen, 


den biederen Strippenzieher, Therapie¬ 
patienten und klugen Intriganten der 
sieben Zwerge, der undichte Stellen in 
der agency anhäuft. 

Desinformation heißt seine Devise 
nach innen wie nach außen. Ganze 
Bücher werden von ihm lanciert Fal¬ 
schen Persönlichkeiten wird kurzerhand 

Leben eingehaucht, denn sie sollen auf¬ 
gebaut werden zu internationalen Ver¬ 
schwörern, Politikern urtd Drogen¬ 
händlern. Später dann fallen sie als 
Kokainbosse in die “Höllenküche des 
Geheimdienstes und finden^sic^er- 

Auch die bejröhmt berüchtigte Latem- 

amerika-Abteilungder agency kann sich 

gielungTn emdsenrich das eine oder 
andere h 
Geheimdienst! 
te. " 

Doch was ist. 
bens- und kamj 
einem 
sehen 

Anarchisten i 
sehen Fotogrc 
tantenverein! 

“ Und auch, wenn wir hier einen 

Roman hätteCPi^^f 0 ” 13 ?’^ 1 

der Dicke und ich niesc hrwhpn wurden. 

Ein wunderbarer vierti 

den wir nicht l|i§§E^- • ■ ^ , 

offenem Ende, in dessen Zenteum In¬ 
formationen und journalistische Ethik 
und Geschichten stünden, die man kenn 
undnichtkennt, und eine Stadt in der es 
pausenlos regnet, mit einem Hang-zur 
Katastrophe, und ein sandmistischer 
Kommandant, der mit so einem glück¬ 
lichen Gesicht ein zweites Sandwich 
mit Serranoschinken ißt, daß er kein 
CIA-Agents 


: J|Ö! ! gegen die le- 
ifetprobte Allianz aus 
V einem kommunisti- 
i, einem spanischen 
hemüs-amerikani- 
einDilet- 


wPPte#'-v ,i. • . 

.. h. 


3? St ?Z™ orbeL Fas t alles! 

" 

4 Hände von Paco Ignacio Taibo II. Verlag 
der Buchläden Schwan Risse/Rote 

Hamburg 




Die sozialdemokratische Friedrich- 
Ebert-Stiftung hatimk.G. Saur Verlag, 
München ein umfangreiches »Inventar 
zu den Nachlässen der deutschen Ar¬ 
beiterbewegung« herausgegeben. 
Verantwortlich zeichnet Hans-Holger 
Paul, der als Ziel formuliert, “der For¬ 
schung zur Geschichte der deutschen 
Arbeiterbewegung einen Zugang zu 
Quellen zu ermöglichen, die insbeson¬ 
dere in der wissenschaftlichen Aufar¬ 
beitung der Geschich te der Weimarer 
Republik, der Arbeiterbewegung unter 
derHerrschaftdesNationalsozialismus 
und imEnl sowie in der Geschichte der 
Bundesrepublik nach 1945 eine Be¬ 
deutung erlangt haben," Dabei sollen 
Persönlichkeiten der Arbeiterbewegung 
“im weitesten Sinne” aufgenommen 
werden, “die Spanne reicht von Per- 
sönlichkeitender äußerstenLinken,z£. 
Rätekommunisten, über Sozialdemo¬ 
kraten, Mitglieder sozialer Bewegun¬ 
gen, der Frauenbewegung bis zu 
christlichen Gewerkschaftern und 
Sozialpolitikern.’' - 

Die große Einschränkung besteht 
darin, daß nur die Nachlässe erfaßt 
wurden, die “in allen Archiven und 
Bibliotheken der Bundesrepublik und 
: W40ßet$ns in den Grenzen vor dem 
3. Oktober1990" aufgenommen wurden 
und daß das eigene Archiv derFriedrich- 
Ebert-Stiftung ebenfalls unberücksich¬ 
tigt blieb. Letzteres soll in einer eigen¬ 
ständigen Veröffentlichung aufbereitet 
werden, Ob und wann die Archive der. 
ehemaligen DDR ebenfalls in diesem 
Sinne gesichtet werden und ob eine 
Bestandsaufnahme gerade der interna¬ 
tional vorhandenen Nachlässe geplant 
ist, bleibt leider unerwähnt. Für eine 
sinnvolle Exilforschung wären aber 
gerade die Nachlässe derjenigen inte¬ 
ressant, die Deutschland in den 30er 
Jahren verlassen mußten. So ist es auch 
nicht weiter überraschend, daß z.B. der 
Name Rudolf Rocker in diesem Band 
niemals auftäucht, da dessen Nachlaß - 
wie der vieler Anarchistinnen - z.B. im 
IISG in Amsterdam lieet. 

Die eintausend Seiten (!) beginnen 
, einem Wirtschafts- 
ftler und Gewerkschafter, 
der wegen FDGB-Kontakten 1957 aus 
der SPD ausgeschlossen wurde und ab 
1960 bei der DFU mitarbeitete. Neben 
einer politischen Kurzbiografie nennt 


Standort des Näch¬ 
ten DGB in Düs- 






181 ! 




Ü 


üil 









■: : . . * 

ßlÜPlillÄ 






und! beschreibt dessen ungefähren Ihr 
halt, also Presse- und Agenturmel¬ 
dungen, Materialien zum Prozeß, Soli¬ 
daritätserklärungen,Korrespondenzetc. 
Die wichtigsten Korrespondenzpartner 
werden aufgezählt, also hier z.B. Bun¬ 
deskanzler, Bundesamt für Verfas¬ 
sungsschutz etc. Anschließend werden 
noch besonders wichtige Korrespon¬ 
denzinhalte genannt. 


Der Bundesgrenzschutz 

und die deutscne Ostgrenze 

ß*od«r d«r ofttfranlitls<h«ft Fahrrad- vrtd Aktionslour 
15.-22. Juli 1995 Zittau-Frankfurt/Oder 

Herauagegoben v«it dun Toilnohmerlnnen der Tour 

...der Reeder verein?: die InPörmtööOften,, efie'/**' 
uiir ujöhrend deir ontfrosslstisched fohrradtour 
sammelten, unsere Sffbhfungen miit der Proxfö 
des BGS Ort der: Ostgrenze 


und allgemeine Texte Ober 


den 8GS, die Grenze und 


den UUiderstand dage 



Inhalt: 

Beripht von der Tour / Europäi¬ 
sche: und deutsche Ahsehot’ 
lungspotitik / Geschichte des 
BGS t BGS an der Ostgrenze / 
Akbonsmöglidikeitert / Auswer¬ 
tung der Tour/ Interview mit dem 
BGS-Chef desGrenzschuteam- 
tes FrankhirlOder/Adresssci 


Bestellungen am 

. Infoladen 
Kphurger Str, 3 
04277 Leipzig 
tfl & fax 0341-311044 


n Pneim & t - DM 

v ab 5 Hefte 3 ,» DM + Porto 
i ah 10 Hefte 2 ,- DM + Porto 
Bezahlung im Voraus (unter 20 DM) 
brw. gegen Rechnung 




■•©eist der 
j HJPH Frei lei! 

I ® A-Flugsohrift - 

Kreis Bergstraße 
14. Jahrgang, Nr, 69/Dezember 1995 

Themenj Verfahren wg. "radikal" «* 
Durchsuchung des Iufoladen "Schlagloch” in 
Dresden ©#’ Flughafen Frankfurt, Cargo City 
Süd, etc... ■ Biblis - . GorleMn ' - ; 
| Kastortransporte # Bensheimer Kneipen- und 
I KUZ-Scene Verfassungsschutzbericht 1994 

I Kostet nix (Spenden aber willkommen) - Porto 
1,50 DM. 


I : . Kontakt: 

GdF * c/o Infoladen Miskito - im AZ 
Heidelberg - Alte Bergheimer Straße 7a - 
69115MÄieFgl s . \ 


I Nr. 70 erscheint Ende Februar - Anfang März 
1996 . ■ . - < ; . 


SF 1/96 


Gibt es einen zweiten Standort be¬ 
ginnt, dieses Verfahren anschließend 
von Neuem, im Fall Agartz schließt 
sich das Bundesarchiv Koblenz an. 

Das sieht auf den ersten Blick alles 
sehr brauchbar aus und diese Ein¬ 
schätzung wird für alle an der Erfor¬ 
schung der Sozialdemokratie Arbei¬ 
tenden auch zutreffen. Ein Inventar muß 
sich aber auch daran messen lassen, wie 
sorgfältig es mit den “Randerschei¬ 
nungen” umgeht und dabei wird esdoch 

erstaunlich dünn. 

Die Freie Arbeiter Union wird nur ein 
einziges Mal erwähnt und schlägt 
mensch unter der S .469 nach, dan n stellt 
sich prompt heraus, daß es sich um 
einen Briefwechsel derFAU mit Niko¬ 
laus Osterroth, einem SPD-Berg- 
arbeiter, Gewerkschafter .und preu- 
ßischen Landtagsabgeordneten handelt. 
Auch einen Fritz Kater-Vertag oder 
einen Syndikalist-Verlag sucht mensch 
vergebens, dafür ist die Freiwillige 
Feuerwehr Ulms verzeichnet. 

Kurz und gut, die Forschung nach 
Anarchistinnen und anderen Linksra- 
dikalenbleibtauch nach diesem Inventar 
weitgehend unsere Sache, d.h. mühe¬ 
volle Kleinarbeit Hilfreich ist das 

Inventar in diesem Bereich nur bei den¬ 
jenigen Persönlichkeiten, die in ihrer 
Vita irgendwann einmal “Vorsitzender 
in einem Arbeiter- und Soldatenrat” 
gewesen sind. Schlägt mensch diese 
Stichworte nach, finden sich so inte¬ 
ressante Persönlichkeiten wie z.B. Emil 
Barth. Doch auch Hier setzten sich leider 

die Verlieben der Bearbeiter durch. 
Barth wurdezwaram 23.4.1879 geboren 
und seine Klempneriehrc wird erwähnt, 

doch sein politisches Leben scheint 1914 

begonnen zu haben, dann jedenfalls 

wurde er Funktionär des Deutschen 
Metallarbeiter-Verbandes (DMV) 
1917 trat er der USPD bei, 1918 wurde 
er Vorsitzender der revolutionären 
Berliner Obleute und Vorsitzender des 
Berliner. Arbeiter- und Soldatenrats 
1920 versuchte er vergeblich den An¬ 
schluß der USPD an die Komintern zu 
verhindern und trat deshalb 1921 zur 

SPD über. Ab 1922 war er Vorsitzender 
der Berliner Betriebsrätezentrale. 

Barth war also 35 Jahre alt, als sein 
politisches Leben begann? Etwas un¬ 
wahrscheinlich bei der dann folgenden 
Entwicklung. Es liegt demnach eher an 
der Herangehensweise der Bearbeiter, 
sie fanden die ersten 15 (?) Jahre nicht 
wichtig genug (oder politisch zu frag¬ 
würdig?). Wenigstens erfährt mensch 


1910 e 
Verein 
ten , de 
und di 
Freien 
wie A 
listisdi 
Allzi 


■sfflsr 


syndik 

überr 


aterialien 


er Freien 


m m 


gerkri 
Durru 
im Z 
AKTI< 
geben, 
eine/ 
gab d 
heraus 
finden 
aussch 
AKT! 
der Gr 
Verla 
Pfemfi 
etwa a 
Briefp 
xande 
Schri 
(S.61 
wurde 
versch 
Un 
Nachl 
zwisc 
schaft 
Kunst 
sich i 
Zeile 
Bei 
dem 
Reich 
brach, 
(USP 
dem S 
Pazifis 
fe. Im 
"Nach 
Wer 
täusch 
suche, 
taugt i 
wohl 
ziald© 


hsch nicht 


tc., umso 


kademie 


Kolonne 


is unter 
nicht zu 






»llllggl 






















929 - 1945 


Teil 1 (Teil 2 erscheint in 
SF-58, Teil 3 in SF-59) 


von Dieter Nelles 


Enthält unser zerfallendes Regime 
Menschen, die Neues zu geben fähig 

s fad,dann ist es diese Generation junger 

deutscher Arbeiter”, 1 schrieb 1932 die 
französische Philosophin Simone Weil 
anläßlich eines Besuchs in Deutschland. 
‘Gleichwohl unter der Voraussetzung”, 
schränkte sie ein, “daß weder die 
faschistischen Banden noch einfach 
Junger und Kälte sie des Lebens 
berauben oder zumindest jener Energie, 
die die Quelle des Lebens ist”. 2 Kurze 
Zeit später kamen die Nationalsozia¬ 
listen an die Macht und eine nicht uner¬ 
hebliche Zahl der von Weil so empha¬ 
tisch beschriebenen Arbeiterjugend 
fand sich wieder in Konzentrations- 
fagem -und Zuchthäusern - unter ihnen 
fastalle Mitgliederder Syndikalistisch- 
anarchistischen Jugend Deutschlands 
(SAJD) aus Wuppertal. Doch nicht nur 
u nter diesem Gesichtspunkt ist diese 
kleine Gruppe am linken Rand der 
Arbeiteijugendbewegung von Interesse. 
Die Wuppertaler SAJD verband die 
nrehr bildungsorientierte der soziali¬ 
stischen Jugend mit der mehr aktivi- 
stischen Motivation der kommunisti¬ 
schen Jugend zu einer neuen Mischung: 
e iner antiautoritären Arbeiterjugend. Im 
Gegensatz zur Organisations- und 
Ideengeschichte, stellte Peukert fest, ist 
die Sozial- und Erfahrungsgeschichte 
der Arbeiterjugendbewegung “noch 
unterbelichtet” und “noch nicht über 
de n Stand der zwanziger Jahre hinaus¬ 
gekommen”. 3 

Im folgenden Beitrag soll unter einer 
sozial- und erfahrungswissenschaft- 
^iehen Perspektive die Geschichte der 
SAJD in Wuppertal zwischen 1929 und 
1^33 und der Widerstand und die Ver¬ 
fügung ihrer Mitglieder während des 
Nationalsozialismus dargestelit wer¬ 
den, 4 



Alle Fotos: Archiv Dieter Nelles 


Helmut Kirschey und Paula Berater 


gegenüber der Erwachsenenorganisa- 
Entstehung, Milieu und tion ihre Autonomie. So schrieb das 

Zusammensetzung der FJM-Mitglied Walter Tacken, es sei 

Wuppertaler SA J D unmöglich mit einigen “älteren Genos- 

sen zusammenzuarbeiten”, weil diese 


Seit 1920 existierten im Gebiet des 
heutigen Wuppertals, in Barmen, 
Elberfeld und Sonnbom, syndikali¬ 
stisch-anarchistische Jugendgruppen. 5 
Im Unterschiedzu den übrigen radikalen 

Arbeiterjugendorganisationen hielt die 

anarchistische Jugendbewegung an drei 

Prinzipien fest: An der Autonomie der 
Jugend, an der Dezentralisation als 
Organisationsprinzip und an der Nicht¬ 
zugehörigkeit zu einer Arbeiterpartei. 
Die Betonung der Jugendautonomie 
brachte die Elberfelder Gruppe, die laut 
Polizeiberichten “in der Jugendbe¬ 
wegung am rührigsten war” 7 , in ihrem 
Namen zum Ausdruck: Freie Jugend 
Morgenröte (FJM). 

DieFJM übernahm Formen, Trachten 
und zum Teil auch Lieder der bürger¬ 
lichen Jugendbewegung, aber zugleich 
standen diese Jugendlichen in völlig 
anderen theoretischen und praktischen 
Zusammenhängen. Denn neben Spie 
und Wanderung” sollte die Jugend mit 
den “Ideen des Syndikalismus und 
Anarchismus vertraut gemacht wer¬ 
den”. 8 Die Jugendlichen waren zum 
Teil auch Mitglieder der anarchosyndi- 
kalistischen Freien Arbeiter Union 
Deutschlands (FAUD), die zu diesem 
Zeitpunkt noch über 1000 Mitglieder 
im Wuppertal hatte. 9 Aber sie betonten 


versuchten, der Jugend “einen Zwang 
aufzuerlegen”, dem sie sich als "Revo¬ 
lutionäre nicht fügen wollten”. Zudem 
stamme“Erfahrungder Alten” aus einer 
“ganz alten Zeit”, nicht aber aus der 
gegenwärtigen “revolutionären Epo¬ 
che”, in der die Jugend ihre Erfahrungen 
selbst sammeln würden. 10 “Revolutio¬ 
näre Epoche”, dieser Begriff hatte hier 
einen doppelten Bezug: Zum einen die 
revolutionären Massenbewegungen der 
Arbeiterschaft und zum anderen die 
Suche nach eigenen Widerstands- und 
Lebensformen - “Erkennende Jugend 
ist Revolution”! 11 Es überrascht daher 
nicht, daß die FJM nach der Stabili¬ 
sierung der politischen und ökonomi¬ 
schen Verhältnisse in den Jahren 1924/ 
1925 zerfiel. Einige ihrer Mitglieder 
blieben aktiv im Rahmen der FAUD 
und der anarchosyndikalistisch beein¬ 
flußten Gemeinschaft proletarischer 
Freidenker (GPF), die Anfang der 30er 
Jahre in Wuppertal circa200 Mitglieder 
zählte. Andere bildeten bis 1933 einen 
“Debattierzirkel” am Arbeitsamt oder 
auf der Straße am Elberfelder Neumarkt, 
und waren bekannt und belächeltals die 
Wuppertaler “Kakaophilosophen”. 

Ende der 20er Jahre war die FAUD in 
Wuppertal nur noch eine kleine Gruppe 
von circa 50 Mitgliedern. Von der SAJD 


SF 1/96 [61] 



existierte 1928 noch eine kleine Gruppe 
von sechs Jugendlichen um die Brüder 
Fritz »Willy und August (Eugen) Benner 
in Barmen. 12 Ende 1929 vereinigte sich 
diese Gruppe mit einigen Jugendlichen 
aus Elberfeld zur SAJD Wuppertal. Der 
überwiegende Teil der Elberfelder 
Jugendlichen hatte vorher familiäre und 
freundschaftliche Kontakte zu älteren 
Anarchosyndikalisten oder zu ehema¬ 
ligen Mitgliedern der FJM. Hans 
Schmitz und Ernst Steinacker waren 
sozusagen in der anarchosyndikali- 
stischen Bewegung groß geworden. Sie 
waren in einer Kindergruppe der FJM. 
Ihre Eltern Hermann Steinacker (1870 
-1944) und Hans Schmitz (sen.) (1892 
- 1931) waren die herausragenden 
Persönlichkeiten der Wuppertaler 
FAUD und zugleich auch die Mentoren 
der SAJD. 

Die SAJD in umfaßte 1930 ca. 10 
Jungarbeiter und 5 Lehrlinge im Alter 
von 16 - 22 Jahren. Die männlichen 
Mitglieder waren weit in der Überzahl. 
Es gab nur drei Mädchen in der Gruppe, 
von denen eine nach kurzer Zeit austrat. 
Die Mädchen waren auszubildende 
Näherinnen bzw. Schneiderinnen - unter 
den Jungen war ein Dreher- und ein 
Anstreicherlehrling, sowie ungelernte 
und Gelegenheitsarbeiter, Tapeten¬ 
drucker, Anstreicher, Bauarbeiter und 
Werkzeugmacher. Die meisten von 
ihnen wurden im Verlauf der Krise ab 

1930 arbeitslos. Es gelang der Gruppe 
nie in größerem Maße, fernstehende 
Arbciterjugendlicheanzuziehen und zu 
organisieren. Sie blieb ein ‘verschwo¬ 
rener Haufen’ mit starkem Zusammen¬ 
halt nach innen und klarer Abgrenzung 
nach außen. Außer den Brüdern Helmut 
und Hans Kirschey und H.S., die sich 

1931 vom Kommunistischen Jugend¬ 
verband gewann die SAJD keine festen 
Neumitglieder. Im Falle der Brüder 
Kirschey ist es bezeichnend, daß diese 
über familiäre Kontakte zur SAJD 
kamen. 13 Insbesondere die Mädchen 
hatten einen schweren Stand in der 
Gruppe. So war ein scharfer Abgen¬ 
zungspunkt von den übrigen Jugend¬ 
organisationen, daß man(n) keinen 
“Poussierclub wie die Sozialistische 
Arbeiterjugend oder die Bürgerlichen” 
haben wollte. 14 Die beiden Mädchen, 
die längerfristig bei der Gruppe blieben, 
waren durch Mutter bzw. Bruder schon 
als Kinder zu politischem Engagement 
angeregt wurden. “Den meisten Mäd¬ 


chen war das ein zu trockener Diskutier- 
und Aktionsclub - und das Tanzen gehen 
usw. war ja verpönt; außerdem hätten 
unsere Jungs da auch gar kein Geld für 
gehabt.” 


Alltag und Politik der SAJD 
zwischen 1930 und 1933 

Die Mitglieder der SAJD waren fast 
täglich zusammen. In Unterbarmen 
bauten sie in Selbsthilfe ein “Jugend¬ 
heim”, eine Hütte im Garten eines 
Genossen. Hier wurde nächtelang dis¬ 
kutiert und gesellig zusammen gesessen, 
“einige versuchten sich auf der Gitarre 
und wir haben oft Jugendbewegungs¬ 
und Arbeiterlieder gesungen, mehr laut 
als schön.” In der Gruppe herrschte ein 
überaus starkes Bildungsbedürfnis; 
“Wir lasen, was uns in die Finger kam, 
Bakunin, Kropoptkin, Rocker, Müh¬ 
sam, Sinclair, Jack London, Dosto¬ 
jewski, auch das ‘Kapital’ und auch 
Brehms Tierleben. Wir wollten doch 
wissen, wie alles zusammenhängt. (...) 
Das war einfach ein wunderbares Ge¬ 
fühl, daß man alles lesen konnte!” 
Gustav Krüschedtberichtete übereinen 
normalen” Tagesablauf im Jahre 1930. 

“Morgens mußte ich um 6 raus. (...) 
Nach der Arbeit haben wir uns meistens 
gleich irgendwo getroffen - damals war 
ja immer was los: Schlägereien mit den 
Nazis, Diskussionen am Rathaus mit 
den Kakaophilosophen, Flugblätter 
machen oder verteilen, am Gewerk¬ 
schaftshausoder auf der Straße abends 
gingen wir immer zu den anderen Orga¬ 
nisationen in ihre Versammlungen, um 
uns da einzumischen. Oder wir waren 
unter uns zusammen. Ich bin damals 
glaub ich selten vor zwölf ins Bett 
gekommen - und dann habe ich noch 
bis3gelesen. (...)Nee Langeweile haben 
wirniegekannt.” Bei den Mädchen war 
der Anteil an Zeit für ihre eigene Person 
deutlich geringer. “Nach der Arbeit, da 
hieß es erst einmal einkaufen und die 
Küche machen, und da gabs ständig 
noch was zu flicken und in Ordnung zu 
bringen.” 

Die älteren Genossen der FAUD 
wurden häufig zu Diskussionen einge¬ 
laden. Obwohl die SAJD auf ihre Auto¬ 
nomie gegenüber der Erwachsenen be¬ 
stand, wurden einige ältere Genossen 
doch als Fachautoritäten” anerkannt 
und prägend für die poli üschc Entwick¬ 


lung der Jugendlichen. Hans Schmitz 
(sen.), ein mitreißender Redner, der die 
militante Tradition des Anarchosyndi¬ 
kalismus verkörperte und Hermann 
Steinacker, der sich noch während des’ 
Sozialistengesetzes der sozialistischen 
und später der anarchistischen Bewe¬ 
gung angeschlossen hatte. Steinackers 
Schneiderstube stand für die Jugend¬ 
lichen offen und war der Ort zahlreicher 
Diskussionen. Er und Schmitz (sen.) 
gehörten zu den wenigen Erwachsenen, 
erinnerte sich rückblickend Paula Ben¬ 
ner, “von denen man Antworten auf 
Fragen bekam”. 1 

Mit einfachsten Mitteln entfalteten 
die Jugendlichen eine rege Öffentlich¬ 
keitsarbeit. Auf einer alten Wäscher, 
Wringmaschine im Keller von H. 
Steinacker wurden neben Flugblättern 
auch Plakate hergestellt. Die Gruppe 
fertigte Portraitpostkarten von Bakunin, 
Kropotkin und Landauer an, die sie 
verkaufte. Kurzfristig wurde mit Hilfe 
dieser eigenen ‘Druckerei’ auch der 
Versuch einer Betriebszeitung gestartet: 
Die Jugendlichen schrieben oder sam¬ 
melten Lehrlings- und Jungarbeiter¬ 
korrespondenzen, die dann von Be¬ 
triebsfremden vor den betreffenden 
Firmen verkauft wurden, so bei der 
Aktenordnerfabrik ‘Elba’ und einer 
Schneiderei, in der “nur Frauen und 
Mädchen ausgebeutet wurden.” Im 
Jahre 1931 lag die Bezirksinforma¬ 
tionsstelle der SAJD in den Händen der 
Wuppertaler Gruppe und auf deren 
Initiative wurde der Aufruf ‘An die 
proletarische Jugend’ in 3000 Exem¬ 
plaren gedruckt und unter die regionalen 
Gruppen sowie in Wuppertal verteilt. 
Dieser Aufruf war bereits 1929 als 
Beilage der Zeitung ‘Junge Anarchisten 1 
erschienen und signalisierte die poli¬ 
tische Hinwendung der SAJD zu öko¬ 
nomischen und politischen Tagespro¬ 
blemen der Arbeiterjugend. 

Das Jahr 1931 muß als Höhepunkt 
der Aktivitäten der Wuppertaler Gruppe 
angesehen werden. Die Jugendlichen 
bereiteten zusammen mit der FAUD 
eine große ‘Sacco und Vanzetti’-Kund¬ 
gebung vor, zum 4.Jahrestag der 
Hinrichtung der italienischen Anar¬ 
chisten in den USA. 15 Die gesamte 
Gruppe studierte monatelang Erich 
Mühsams Theaterstück ‘Staatsraison 1 
ein, daß den Justizmord an Sacco und 
Vanzetti zum Gegenstand hatte. Regie 
führte der damals 23-jährige Werkzeug- 


[62] SF 1/96 








! 



Bacher Alfred Schulte, der sich dafür 
arT * Düsseldorfer Schauspielhaus bei 
^olfgang Langhoff Rat holte. Das 
Stück wurde ein voller Erfolg. Die 
Stadthalle Elberfeld war nach ihren 
c igenen Angaben “voll”; man wieder¬ 
holte deshalb die Aufführung wenige 
Wochen später vor “circa 200 Zu¬ 
schauern” im Hotel Hegelich in Bannen. 

Erwähnenswert ist, daß auch in der 
s AJD das jugendbewegte Element 
durchaus lebendig war. Gemeinsam 
^urde, zu Fuß oder mit dem Fahrrad, an 
den großen regionalen Treffen der 
Jugend teilgenommen, so auf den Düs¬ 
seldorfer Rheinwiesen, am Rhein bei 
Leichlingen oder am Harkort. Politisch- 
ideologisch grenzte sich die SAJD von 
den anderen Jugendorganisationen der 
Arbeiterbewegung scharf ab. So beka¬ 
men die S AJD-Mitglieder wegen ihres 
Engagements für die in der Sowjetunion 
inhaftierten Anarchisten wiederholt zu 
hören. “Bis zur Revolution kann man 
Euch brauchen - aber danach seit ihr die 
Ersten, die an die Wand gestellt wer¬ 
den.” Wegen des Austritts aus dem 
Kommunistischen Jugendverband von 
Helmut Kirschey, der aus einer der be¬ 
kanntesten kommunistischen Familien 


in Wuppertal stammte, kam es sogar zu 
einer handfesten Prügelei zwischen den 

Jugendlichen . 16 Aber diesePrügelei war 

eine Ausnahme. Ansonsten hattön sie 
besonders zu den kommunistischen 
Jugendlichen ein sehr solidarisches 
Verhältnis, vor allem, wenn es gegen 
die Nazis und die Sicherheitöpolizei 
ging, mit der sie zum Beispiel 1931 

aneinander gerieten, als sie gemeinsam 
die Zwangsräumung einer zahlungs¬ 
unfähigen Arbeiterfamilie an der Para¬ 
destraße in Elberfeld verhindern woll¬ 
ten. Dabei kam es zu heftigen Straßen¬ 
schlachten, in deren Verlauf das Pflaster 
aufgerissen und die Gaslatemen mit 
Steinen ausgeworfen wurde. 

Seit 1930 bestand in der SAJD m 
Wuppertal ein völlig anderes Verhältnis 
zur Gewaltanwendung als bei den anar¬ 
chistischen Jugendlichen Anfang der 
zwanziger Jahre. Diese hatten, wohl 
unter dem Eindruck des Krieges, häufig 
pazifistische Ideen vertreten. Die zwei 
Arme, die ein Gewehr zerbrechen, das 
Zeichen der antimilitaristischen Bewe¬ 
gung, wurden besonders von den Anar¬ 
chosyndikalisten als ihr Symbol ange¬ 
nommen, als Anstecknadeln getragen 
und auf Flugblättern, Zeitungen und 


Postkarten verbreitet. Während viele 
der früheren Jugendlichen der FJM 
darunter eher das individuelle Bekenn¬ 
tnis verstanden, keine Waffen anzu¬ 
wenden und zu produzieren, wurde von 
den späteren, mehr am Klassenkampf 
orientierten Junganarchisten dagegen 
der Vorgang des “Brechens” betont. 
Dazu kam hinzu, daß die FAUD nicht 
mehr die militante Sozialrevolutionäre 
Gewerkschaftorganisation war, als die 
sie 1919 angetreten war. Sie war aus 
eigener Kraft nicht in der Lage ökono¬ 
mische Kämpfe zu führen, denen in 
Zeiten der Weltwirtschaftskrise allge¬ 
mein enge Grenzen gesetzt waren. Die 
Politik der FAUD konnte daher nur 
bedingt eine Orientierung für die Ju¬ 
gendlichen sein. Die Massenarbeits¬ 
losigkeit und die wachsende Übergriffe 
der Nationalsozialisten stellten alle 
Organisation der Arbeiterbewegung vor 
eine neue S itutation, in der alte Analysen 
und Parolen nicht mehr griffen. Vor 
diesem Hintergrund ist die Äußerung 
von Helmut Kirschey zu verstehen: “In 
Berlin oder Krefeld wär ich nicht zur 
syndikalistischen J ugend gegangen: Die 
waren da gewaltlos - aber wir waren in 
Wuppertal!” 


i 


! 


i 


I 

I 

i 

i 

i 

i 



SF 1/96 [63] 





Mit der Einrichtung der S A-Kaseme 
in Unterbannen in der unmittelbaren 
Nähe des Gewerkschaftshauses, einer 
der beliebtesten Treffpunkte der S AJD, 
wuchs der alltägliche Terror gegen die 
Arbeiter. - “Du konntest abends als 
bekannter Sozialist da nicht mehr allein 
Vorbeigehen.” Wer für einen “Roten” 
gehalten wurde, mußte damit rechnen 
von der SA bedroht zu werden. Parallel 
zu anderen linken Arbeitergruppen 
wurden von der SAJD zwei Pistolen 
gekauft und die Gruppe verfügte auch 
über ein Gewehr. Die Bewaffnung 
wurde angesichts der konkreten Bedro¬ 
hung durch die SA als lebensnotwenig 
betrachtet, vor allem weil sie nicht daran 
dachten, durch “Stillhalten” verschont 
zu werden. “Du mußt nach vom gehen, 
dann tun sie Dir nix - nicht zurück!” In 
den Gebrauch und die Pflege wurden 
sie von einem befreundeten Mitglied 
des Rotfrontkämpferbundes angeleitet. 
Mit den Wanderungen und Fahrten 
wurden jetzt Schießübungen verbunden, 
so in einem alten Schleifkotten in 
Balkhausen und auf einer Fahrt an die 
Mosel. Die Mädchen beteiligten sich 
nach eigenen Angaben weniger an die¬ 
sen Aktivitäten. Allerdings übernahmen 
sie wichtige Aufgaben, als in Balkhau¬ 
sen diePolizei auftauchte. Die Mädchen 
versteckten die Pistolen im Suppentopf 
und transportierten sie auf dem Nach¬ 
hauseweg in ihren Kopfkissen, wo sie 
eine weitere Polizeikontrolle unbemerkt 
überstanden. 

Ein Beispiel für die Anwendung die¬ 
ser Waffen zeigt der folgende Artikel: 
“Nazi-Terror in Wuppertal” “In Wup¬ 
pertal^-Barmen haben die SA-Mannen 
vom Hakenkreuz vor längerer Zeit ein 
leerstehendes Fabrikgebäude in eine 
Hitler-Kaserne verwandelt, von wo aus 
sie ihre ‘Feldzüge* gegen die Bevölke¬ 
rung des Bezirks Barmen-U. eröffnen, 
so daß selbst die Polizei gezwungen 
war - auf Grund der dauernd einlaufen¬ 
den Beschwerden in dieses Mördemest 
einzudringen und Haussuchungen usw. 
vorzunehmen. Harmlose Straßenpas¬ 
santen werden grundlos überfallen. 
“Tippelkunden” mit Eisenstangen zu 
Boden geschlagen, weil sie den Gruß 
‘Heil Hitler* nicht erwidern usw. Wie 
es aber mit dem ‘Heldenmut* der brau¬ 
nen Mordpest bestellt ist, sobald sie auf 
energischen Widerstand stoßen, davon 
zeugt folgender Vorfall: am Freitag dem 
13. November, abends gegen 11 Uhr, 


fielen diese vertierten Elemente völlig 
grundlos einige Reichsbannerleute an. 
Als in diesem Augenblick fünf unserer 
Genossen an dem Ort, wo die Keilerei 
tobt, vorbeikamen, ließen die Banditen 
von den Reichsbannerleuten ab und 
stürzten sich mit lauten Drohungen auf 
unsere Genossen. Dem Genossen Her¬ 
mann Hahn wurde miteinem Schlagring 
eine tiefe Wunde dicht über dem Auge 
geschlagen. Als in diesem Moment die 
Horde aus der Kaserne heraus noch 
Verstärkung erhielt, feuerte der 19-jäh¬ 
rige Jugendgenosse E. B. vier scharfe 
Pistolenschüsseab und mitder Rauflust 
war es vorbei. Sofort ließen dieRowdys 
von den Genossen ab und 30 ‘Hitler- 
Gardisten’ ergriffen vor dem vordrin¬ 
genden 19-jährigen Jung-Anarchisten 
das Hasenpanier. Der Jugendgenosse 
wurde von einer hinzukommenden 
Polizeistreife verhaftet, die dann auch 
noch eine Durchsuchung der Räuber¬ 
höhle vornahm, ohne natürlich etwas 
zu finden, weil sich die Vorkämpfer des 
Dritten Reichs’ in ihre geheimen Ver¬ 
ließe zurückgezogen hatten,diedas um¬ 
fangreiche Fabrikgebäude ja zur Gen üge 
besitzt. Die Pressestelle des Polizeiprä¬ 
sidiums mußte in der hiesigen Presse 
aufgrund der Aussagen der zahlreichen 
Zeugen und der Empörung der Bevöl¬ 
kerung über die dauernde Terrorisierung 
selbst zugeben, daß die Anarchosyn¬ 
dikalisten, die sich von einer Versamm¬ 
lung kommend, auf dem Heimweg be¬ 
fanden, von den Nationalsozialisten 
völlig grundlos überfallen wurden, und 
der Syndikalist B. in Notwehr vier 
Schreckschüsse abfeuerte. Der Jugend¬ 
genosse E. B. wurde am anderen Tage 
wieder auf freien Fuße gesetzt. Man 
darf auf den Ausgang der Verhandlung 
gespannt sein. Es ist nicht das erstemal, 
daß revolutionäre Arbeiter, die sich bei 
Überfällen dieser Banditen so energisch 
zur Wehr setzten, drakonische Strafen 
erhiel ten und die Angreifer leer ausein- 
gen.” 17 

Der Artikel zeigt auch die wachsende 
Solidarität zu anderen Arbeitern, die 
zwar ideologisch bekämpften Arbeiter¬ 
organisationen angehörten - in diesem 
Fall dem sozialdemokratischen Reichs¬ 
banner -, aber vom täglichen Terror der 
SA genauso betroffen waren. In Unter¬ 
barmen war diese Solidarität an der 
‘Basis’ stark ausgeprägt und besonders 
zwischen Kommunisten und Anarcho¬ 
syndikalisten bestand ein solidarisches 


und freundschaftliches Verhältnis. 18 
Durch die nahegelegene SA-Kaseme 
war die Bedrohung der dort lebenden 
Arbeiterbevölkerung zu groß, als das 
ideologische Differenzen noch eine 
große Rolle gespielt hätten. 

Angesichts der militanten Auseinan¬ 
dersetzungen mit den Nationalsozia¬ 
listen verwundert es nicht, daß 1931 
die SAJD Wuppertal mitälteren FAUD- 
Genossen eine sogenannte Schwarze 
Schar gebildet hatte. Diese bewaffnete 
Selbstschutzgruppe war die anarcho- 
syndikalistische Variante des Rotfront¬ 
kämpferbundes bzw. des Reichsban¬ 
ners. 19 Ausgehend von Ratibor in Ober¬ 
schlesien hatten sich in mehreren Städ¬ 
ten Deutschlands Gruppen der Schwar¬ 
zen Schar gebildet Ein Wuppertaler 
Mitglied der ‘Schwarzen Schar’ berich¬ 
tete. “Wir trugen schwarze Hemden, 
schwarze Hosen und Stiefel und einen 
Gürtel. Mancher hat mit Schuhwichse 
etwas nachgeholfen —wir hatten ja kein 
Geld. Man kann sagen, das War eine 
Uniform. So was hatten wir als Anar¬ 
chisten immer abgelehnt und viele an¬ 
dere Gruppen lehnten das auch weiterhin 
ab. Irgendwie war das auch eine Art 
Anpassung. Die Rotfrontkämpfer und 
das Reichsbanner, die hatten Unifor¬ 
men, nur wir hatten nichts. Mit Sprech¬ 
chören und Liedern gingen wir vor un¬ 
seren Demonstrationen her oder bei den 
anderen Demonstrationen mit. Die 
hatten einen Heidenrespekt vor uns - sie 
wußten ja nicht, wie wenige wir waren! ” 
Die Schwarzen Scharen verkörperten 
den neuen Geist der Militanz und Akti¬ 
vismus der jungen Anarchosyndika¬ 
listen und waren damit ein Spiegelbild 
der allgemeinen politischen Militari¬ 
sierung in den letzten Jahren der Wei¬ 
marer Republik. In Wuppertal war die 
Schwarze Schar ein kleiner aber wich¬ 
tiger Teil des proletarischen Selbst¬ 
schutzes und trug mit dazu bei, zahl¬ 
reiche Übergriffe der SA in Versamm¬ 
lungen und in den Straßen der Arbeiter¬ 
viertel zu verhindern. 

In SF-Nr.58 wird dieser Beitrag fortgesetzt 
“ Teil 2: Widerstand und Verfolgung 
1933 - 1939 

Bei vorliegendem Beitrag handelt es sich 
um eine Vorabveröffentlichung. Er cr ' 
scheint in Kürze im Rahmen des B uches: 
“Lebens- und Arbeitswelteri von Ju¬ 
gendlichen im 19. und 20. Jahrhundert”, 
von Ute Lange-Appel, Burkard Dictz 
und Manfred Wahle. Dr. Winkler Verl ag 
Bochum. 


[64] SF 1/96 









mm 




MlillMililliM 




Qpiljij 


Illegale Wupperlale SAID mit Düssei- 
Piraten 1935 


Anmerkungen 

1 Weil, Simone: Unterdrückung und 
Freiheit. Politische Schriften, München 
1987, S. 60. 

2 Ebenda. 

3 Peukcrt, Detlev J. K.: Jugend zwischen 
Krieg und Krise. Lebenswelten von 
Arbeiterjugendlichen in der Weimarer 
Republik, Köln 1987, S. 233. Zur 
Organisation - und Ideengeschichte der 
SAJD vgl. Linse, Ulrich: Anarchistische 

Jugendbewegung 1918 -1933, Frankfurt 

am Main 1976. 

4 Der Aufsatz ist die erweiterte Fassung 
von Klan Ulrich / Nelles, Dieter: 4 Es 
lebt noch eine Flamme’. Rheinische 
Anarcho-Syndikalisten/-innen in der 
Weimarer Republik und im Faschismus, 
Grafenau-Döffingen 1986, 2. Auflage 
1990. 

5 Vgl. zum folgenden Klan / Nelles: Es 
lebt noch eine Flamme (1990), S. 189 
234. 

6 Vgl. Linse, Ulrich: Anarchistische 
Jugendbewegung (1976), S. 20. 

7 Vgl. Schreiben Polizeipräsident Elber¬ 
feld an Regierungspräsident Düsseldorf, 
19. 8. 1921, in: Hauptstaatsarchiv 
Düsseldorf, Reg. Düsseldorf, Nr. 15409, 
Bl. 215. 


8 Vgl. Schreiben Polizeipräsident B armen 

an Regierungspräsident Düsseldorf, 13. 

6.1921, in: ebenda, Nr. 15810, Bl. 14- 

9 Zur Geschichte der FAUD vgl. Bock, 
Hans-Manfred: Syndikalismus und 
Linkskommunismus von 1918 - 1923. 
Ein Beitrag zur Sozial- und Ideenge¬ 
schichte der frühen Weimarer Republik. 
Darmstadt 1993. Rübner Hartmut: 
Freiheit und Brot. Die Freie Arbeiter- 
Union Deutschlands. Eine Studie zur 

Geschichte des Anarchosyndikalismus, 

Berlin 1994; Klan/Nelles, Es lebt noch 
eine Flamme (1986, 2 1990). 

10 Vgl. Die Schöpfung, Sozialrevolutio¬ 
närs Organ für das sozialistische Neu¬ 
land, 12. 7.1921. 

11 Ebenda. 

n Vel. zum folgenden, Klan / Nelles: Es 

lebt noch eine Flamme (1986), S. 234- 

267; Nelles, Dieter: Nachruf auf Eugen 
Benner, in: Schwarzer Faden. Viertel- 
jahresschrfit für Lust und Freiheit, r. 
29,4/1988, S. 58-61. 

13 Vgl. Nelles, Dieter: Helmut Kirschey. 
Ein Leben im Widerstand, in: Wupper- 
Nachrichten, Nr. 4/1993, S. 7. 


14 Soweit nicht anders zitiert beziehen sich 
die folgenden Ausführungen auf Inter¬ 
views mit ehemaligen Mitgliedern der 
SAJD. 

15 Vgl. Aufruf zur Sacco und Vanzetti- 
Kundgebung am 29. und 30. August in 
Wuppertal, in: Der Syndikalist, Organ 
der Freien Arbeiter Union Deutschlands 
(Anarcho-Syndikalisten, Jg. (13), Nr. 34. 

16 Vgl. Der Syndikalist, Jg. 13 (1931), Nr. 
19. 

17 Der Syndikalist, Jg. 13 (1931), Nr. 48. 

18 Interview mit Karl Ibach, Wuppertal, 
Oktober 1989. Ibach, jüngster Häftling 
Autoreines Buchsüberdas Wuppertaler 
KZ Kemna, war im Jahre 1932 Zellen¬ 
leiter der KPD in Unterbarmen. 

19 Vgl. Linse, Ulrich: Die “Schwarzen Scha¬ 

ren” - eine antifaschistische Kampf¬ 
organisation deutscher Anarchisten, in: 
Archiv für die Geschichte des Wider¬ 
stands und der Arbeit, Nr. 9 (1989), S. 
47 -66. 


SF 1/96 [65] 













Freiheit Pur 

Die folgende Kritik am neuen Buch Horst 
Stowassers über die "Idee der Anarchie, 
Geschichte und Zukunft", erschienen 
im Eichborn-Verlag, versteht sich nicht 
als Rezension und beansprucht auch 
nicht, das 400-seitige Werk insgesamt 
zu beurteilen. Als persönlich Betroffene 
geht es Ilse Schwipper ausschließlich 
um die Passagen über Beweg ung 2 Juni . 
SF-Red. 

Betr.: Kapitel 16 
Hallo Horst, 

Ich weiß von anderen Menschen, die 
in anderen Zusammenhängen Kritik an 
dir oder von dir Geschriebenen übten, 
und niemals Beachtung fanden. Mein 
Schreiben an dich hat'also nicht den 
Anspruch beantwortet zu werden, aber 
einiges habe ich zu deiner Art mit 
Menschen umzugehen und zu beurteilen 
zu schreiben: 

In dem Buch »Freiheit Pur« gehst du 
auf den Seiten 112-113 in 14Zeilenauf 
die Bewegung 2.Juni ein. Du erlaubst 
dir dort die Bewegung insgesamt am 
Beispiel der »Schmücker-Aktion« als 
‘Drama netschajewscher Prägung’ zu 
beurteilen, was deinerseits suggestiv 
als verabscheuungswürdig gemeint ist. 
Belegt wird das Ganze von dir mit 

Sätzen wie:." Schmücker hatte sich 

vom Verfassungsschutz benutzen las¬ 
sen, war aber in erster Linie ein idea¬ 
listischer und unbedarft labiler Mensch, 
der glaubte, seinen Genossen treu blei¬ 
ben und den Geheimdienst austricksen 
zu könnend 

Abgesehen davon, daß du hier tust als 
kanntest du Ulrich Schmücker per¬ 
sönlich und wußtest -wie vom besten 
Freund- um seine Charakterstruktur, 
kolportierst du nach BILD- und Aust - 
manier , ohne Kenntnis tatsächlicher 
Vorgänge, ein Bild einer Bewegung in 
die Öffentlichkeit, das den Hirnen bür¬ 
gerlicher Medien entsprungen sein 
könnte. 

Woher weißt du, daß es sich bei Ulrich 
Schmücker um ein “armes Würstchen” 
handelte, als das du ihn benennst, ist 
dann der Verfassungsschutz der Sonn¬ 
tagsbraten? Wie du merkst ist deine 
Sprache in dieser Sache wenig dienlich. 

Wer den »Schmücker-Prozeß« über 
17 Jahre verfolgt hat, und sich die Mühe 
machte der Beweisaufnahmezu folgen, 
der bekam schon einen Begriff davon, 
was der Verfassungsschutz ist und mit 
welchen Mitteln er revolutionäre Politik 


[ßßj SF 1/96 


verfolgt. Inwieweit wollte Ulrich 
Schmücker 'seinen Genossen treu 
bleiben' ? Den Beweis bleibst du der 
Öffentlichkeit schuldig. Da hatte sich 
in der Beweisaufname des Verfahrens 
auch schon anderes herausgeschält. 
Ebenso gilt das für deine Behauptung, 
daß Ulrich Schmücker den Verfas¬ 
sungsschutz austricksen wollte. Womit 
denn? Das mußt du wie ganz selbstver¬ 
ständlich auch nicht erwähnen, das sol¬ 
len deine Leserinnen so einfach schluk- 
ken. Außerdem ist es völlig unzulässig 
eine Bewegung anhand einer Kom¬ 
mandoaktion zu beurteilen, das ist wenig 
analytisch oder seriös und einzig ober¬ 
flächliche Polemik. Im Gegensatz zu 
anderen bewaffnet kämpfenden Grup¬ 
pen war die Bewegung 2. Juni dezentral 
und förderalistisch organisiert, und war 
keineswegs einzig illegal, fern aller 
linken Strömungen angesiedelt 

Entweder hast du von all dem keine 
Ahnung, willst es nicht wissen, oder 
übergehst es arrogant, weil die Bewe¬ 
gung 2. Juni und ihre Wurzeln für dich 
rein gar nichts mit Anarchismus zu tun 
haben soll. Leider vermittelst du weder 
die damaligen politischen Zusammen¬ 
hänge, noch die Vielfalt des damaligen 
Widerstandes, noch wo in welcher Form 
Anarchie gelebt wurde. 

Letzlich: womit du jeden an dieWand 
stellen kannst, ist, wenn du darauf 
verweist, daß in Guerillaaktionen das 
Mittel fehlt, das auf Anarchie verweist. 
Richtig, das Gewehr ist nicht Anarchie, 
eine Entführung mit Erpressung (Be¬ 
freiung von Gefangenen aus den Ge¬ 
fängnissen) keine Methode ohne auto¬ 
ritäres Verhalten. Die Frage dabei ist, 
mit welchen Augen sehe ich das, mit 
welchem Bewußtsein beurteile ich das? 
Will ich psychologisieren oder poli¬ 
tische Analyse einfließen lassen?! Um 
es noch einmal zu sagen: die Aktion 
macht nicht eine Bewegung in ihrer 
Gesamtheit aus. Nach deinen Beurtei¬ 
lungskriterien war dann Durutti ein au¬ 
toritärer Befehlshaber im spanischen 
Bürgerkrieg, und all seine Mitkämpfer¬ 
innen geheimbündlerische Desperados 
mit Gewehr. Das nur als ein Beispiel. 

Aber worum es dir letztlich geht wird 
in Kapitel 18 deutlich, dort nämlich wo 
du vom Hefeteig sprichst den Anarchi¬ 
stinnen anstatt der Avantgarde sein 
sollen/müssen. Deine Metapher von der 
Mischung: Hefe - Zucker - Mehl die 
beim Gären den Anstoß geben soll, und 
nach dem Backen (das vergißt du zu 


erwähnen) zum Brot geworden ist. Vom 
Knall zur Wende! (so entsteht für dich 
Revolution) Wesentlich ausführlicher 
als in dem Buch jetzt (Kapitel 18), hast 
du früher in dem Text »Hefeteig oder 
Avantgarde?« im Zusammenhang mit 
dem »Projekt A« darüber referiert, 
allerdings ohne Landauer (wie jetzt) für 
die Richtigkeit zu bemühen. 

Nun aber zum Schluß: 

Nach jedem Kapitel gibst du dankens¬ 
werter Weise massenhaft Literatur¬ 
hinweise, nur im Kapitel 16 fehlt nun 
schlichtweg alles an dem deine Leser¬ 
innen nachprüfen könnten was du zur 
»Bewegung 2. Juni« geschrieben hast. 
Deshalb hole ich es hier nach, damit du 
dir einen Eindruck verschaffen kannst 
was diese Bewegung war, und deine 
Leserinnen es nachholen können: 

~ D er Blues - (Schriften - Flugblätter - 
Prozeßerklärungen) 2 Bände 

- Die vier Aufrechten von der Spree - 
(Schrift zur * T unix - Konferenz ’) | 

- Wie alles anfing - (Individuelle Be¬ 
trachtungsgeschichte von Bommi Bau¬ 
mann) 

- Der unendliche Kronzeuge - (Buch zum 
Schmücker-Prozeß vom Anwalt Bernd 
Häusler) 

- Bewegung 2. Juni - (Ganz neu rausge¬ 
kommen - Die Geschichte und Betrach¬ 
tungen von Ralf Reinders und Ronald 
Fritsch) 

Sicherlich ist das nicht alles, aber ich 
vertraue auf die Leserinnen, die sich 
umhören, umsehen und noch mehr fin¬ 
den werden.* 

Mein offener Brief soll keine Legiti¬ 
mationsschrift sein, keine Rechtferti¬ 
gung, aber eine Richtigstellung und ein 
Hinweis darauf wie oberflächlich Be¬ 
urteilungen geschichtlicher Vorgänge 
von dir vorgenommen werden. Dein 
Umgehen damit wäre vielleicht nicht 
erwähnenswert, wenn der Eichbom 
Verlag nicht auf der Rückseite des 
Buches von einem “umfassend ange¬ 
legten politischen Standardwerk” 
schreiben würde. Da beim in die Hand¬ 
nehmen eines Buches, Klappentexte 
oftmals entscheidend für den Kauf sind, 
sollte auf das “umfassende” Herangehen 
der jüngeren deutschen Geschichte in 
Form des Guerilla-Kampfes verwiesen 
werden. 

In dem Sinne undAnarcha - 
Feministische Grüße 
Ilse Schwipper 

* Uns sind wenigstens noch zwei we iiere Texte 
bekannt, die auch beim SF bestellt werden 
können: 

Gewalt und Solidarität . Zum Schmücker- 
Prozeß. Internationalismus-Verlag, Hanno¬ 
ver, 10.-DM 

Ralf Reinders: "Die Bewegung 2 Juni - 
Gewaltmonopol wurde durchbrochen'. Sr- 
25, 3/87,5.-DM i 








Bücherservice 

Lieferbare Bücher von SF-Autorinnen 
Portofrei bestellbar durch die 
SF-Redaktion, PF 1159,71117 Grafenau 

W olfgang Sterneck: Der Kampf um die Träume 
- Musik, Gesellschaft und Veränderung (von 
Rock bis Hardcore), KomistA-Verlag, 384S«, 
29,80DM 

Wolfgang Haug/Herby Sachs (Hg.:) Die 
Ausblendung der Wirklichkeit. Texte zur 
Medienkritik. Mit weiteren Beiträgen u.a. von 
Jörg Auberg, Stefan Schütz, Marianne Kröger, 
16.-DM. Trotzdem-Verlag, Grafenau 

Herby Sachs/Dorothea Schütze: Ojaia - 
Hoffnung auf ein neues Land - Guatemalas 
Flüchtlinge kehren zurück. Mit einem Vorwort 
von Rigoberta Menchu. Hintergrandstrexte und 
Fotos, 28.-DM, Trotzdem-Verlag, Grafenau 

Werner Baisen/Karl Rössel: Hoch die inter¬ 
national e Solidarität. Zur Geschichte der Dritte- 

Welt-Bewegung in der BRD., 360 S., 29,80 DM, 
Kölner Volksblatt-Verlag. 

Wolfgang Haug/Michael Wtlk: Der Malstrom. 
Aspekte anarchistischer Staatskritik, 110 S., 
16.-DM. Trotzdem -Verlag, Grafenau 

Autonome A.F.R.I.K.A.-Gruppe: Meöien- 
randale, Rassismus und Antirassismus. Die 
Macht der Medien und die Ohn-macht der Linken?, 
24.-DM, Trotzdem-Verlag, Grafenau 

Friederike Kamann/Eberhard Kögel: Ruhe¬ 
störung, Bd. 1 & 2. Zur Entstehungsgeschichte 
und zu den Konflikten eines selbstverwalteten 
Jugend Zentrums. Je 28.-DM, zus. 50.-DM. 
Trotzdem-Verlag. 

Ulrich Klan/Dieter Neiies: Es lebt noch eine 

Flamme. Rheinische Anarchosyndikalistlnnen in 

der Weimarer Republik. 400 S, 34.-DM, 
Trotzxi em-Verlag, Grafenau 

Hartmut Rübner: Freiheit und Brot - Die Freie 
Arbeiter Union Deutschlands., 317 S., 52.-, 
Libertad-Verlag, Berlin/Köln 

Noam Chomsky: Clintons Vision - die neue 
Außen- und Wirtschaftspolitik, 120 S., 14.-DM, 
Trotzdem-Verlag, Grafenau 


Noam Chomsky u.a.: Die neue Weltordnung 
und der Golfkrieg, 140 S., 16,-DM, Trotzdem- 
Verlag, Grafenau 

Noam Chomsky: Die Herren der Welt, 170 S., 
25.-DM. D. Mink-Verlag, Berlin 

Noam Chomsky: Arbeit, Sprache und Freiheit, 
Trafik-Verlag, Mühlheim/Ruhr, 15.-DM 

Murray Bookchin: Die Neugestaltung der 
Gesellschaft. Soziale Ökologie und kommu- 
nalisdsche Umformung der Gesellschaft. 200 S., 
24.-DM, Trotzdem-Verlag, Grafenau 

Murray Bookchin: Hierarchie und Herrschaft, 
176 S., 19,80 DM, Karin Kramer Verlag, Berlin 

Janet Biehl: Sozialer Ökofeminismus und 
andere Aufsätze, 120 S., 14.-DM, Trotzdem- 
Verlag, Grafenau 

Klaus Bittermann: Geisterfahrer der Einheit - 
Kommentare zur Wiedervereinigungskrise, 
Edition ID-Archiv, 162 S., 18.-DM 

Jens Bj0rneboe: Stille. Ein Anti-Roman gegen 
Kolonialismus und Rassismus,, 189 S., 28.-DM. 
Trotzdem-Verlag, Grafenau 

Jens Bj0meboe: Pulverturm, Merlin-Verlag, 
Gifhorn, 290S.,32.-DM 

Peter-Paul Zahl: Fritz - A German Hero. Ein 
Theaterstück über den frühen (anarchischen) 
Friedrich Schiller. Trotzdem-Verlag, Grafenau 
(Beim SF für 18.- anstatt für 24.-DM!) 

Peter-Paul Zahl: Die Erpresser. Eine Komödie. 
116 S., 14,80DM, Karin Kramer Verlag, Berlin 

Peter-Paul Zahl: Teufelsdroge Cannabis. 
Krimi, 160S., 24 , 80 DM,Verlag Das neue Berlin 

Ralf Reinders/R. Fritzsch: Bewegung 2 Juni, 
Vurlag ID-Archiv, Berlin, 18.-DM 

Horst Stowasser: Freiheit pur - Die Idee der 
Anarchie, Geschichte und Zukunft, Eichborri- 
Verlag, 400S., 44.-DM 

Peter Reichelt: Du bist mein FVeund, Karl 
Maus. Kinderbuch. Großformat, 46S., Hardcover, 
28.-DM (Beim SF: nur 20.- DM),- Trotzdem 
Verlag, Grafenau 


2 1/22 


Trampert/Ebermann: Vom bösen Geld¬ 
kapital *' C. Preuschoff: Russische Avant¬ 
garde u. industrielle Arbeit * T. Menningen 
»junge Welt« für Gentechnik -feP.Bierl: PDS- 
Kommunistische Plattform: Thälmanns . 
letztes Aufgebot * Earth First & Frontline, 
Veganismus & Biozentrismus * J Ditfurth; 
NS-Mitläufer M. O. Bruker ★ L. Baack: Antje 
Vollmer und die Vertriebenen * C Danck- 
worth/A. Gniech: Radikal & Repression ★ W. Kühr: Grüne = 
Atomenergie ~k D. Asselhoven: Hochschulkampf 
Und: Silvio Gesell i- Gegen das völkische Prinzip * Spiritueller 
Ökofeminismus * Nordirland II * Ausraster * Bücher & Filme ... usw. 

ch bestelle: □ Probeheft 9 DM (Doppelheft) □ Abo 36 DM (6 Ausg.) 
v Außerdem: □ Infos ü. Ökologische Linke Irt/M 

intakt: Ökologische Linke, c/o M . Zieran, Neuhofstr. 42,60318 Fra nkfurt/M 


Lieferung nur gegen Vorkasse ★ DOPP£LHEJFT ★ 


Heribert Baumann & Ulrich Klemm: Werk¬ 
stattbericht Pädagogik, Bd. 1 & 2. Texlauswahl 
zur libertären Pädagogik und Schulkritik, je 170S., 
je 18.-DM. Trotzdem-Verlag, Grafenau 

Ulrich Klemm: Prinzip Freiheit, Oppo-Verlag, 
Berlin, 16,80 DM 

Ulrich Klemm: Bildung ohne Herrschaft, 184 
S., 32.-DM, Dipa-Verlag, Frankfurt 

Ulrich Klemm: Anarchismus und Pädagogik, 
252 S.» 36.-DM, Dipa-Verlag, Frankfurt 

Gabriel Kuhn: Leben unter dem Totenkopf 
(Piratentum), 64 S., 13,80 DM, Monte Venta 
Verlag, Wien 

Heinz Hug: Kropotkln-Blbliographle, 260 S., 
35.-DM, Trotzdem-Verlag, Grafenau 


Bell Hooks: Black Looks, 256 S., 36.-DM, 
Orlanda Verlag, Berlin 


Gerhard Kern/Gerald Grüneklee (Hg.): 
Lernen ln Freiheit. Anti-Pädagogische Thesen, 
180S, 20.-DM, AKAZ/Anares Nord 

Gerhard Kern/Lee Traynor: Die esoterische 
Verführung, IBDK-Verlag, 381S., 36.-DM 


Topitas (Hg.) (u ji. mit Herby Sachs): Ya basta! 
-Der Aufstand der Zapatistas,364S.,28.-DM, 
Verlag libertäre Association, Hamburg 

Autonome LUPUS-Gruppe: Lichter-ketten 
und andere Irrlichter - Texte gegen finstere 
ico s 9.4.-DM. Edition ID-Archiv, Berlrn 


Arno Maierbrugger: Fesseln b « chcn nlc | 1 * 
von selbst. Anarchistenpresse 1890-1933., 214 


Geronimo: Feuer und Flamme, 24ÖS,,25.-DM, 
Edition ID-Archiv, Berlin 


Klaus Schönberger/Claus Koestler: Der Freie 
Westen, der vernünftige Krieg, seine linken 
Liebhaber und ihr okkzidentaler Rassismus oder 
wie hierzulande die Herrschaft der "neuen" Welt¬ 
ordnung als "Krieg in den Köpfen" begonnen hat 
187S., 15.-DM 


Der Bücherservice soll die SF-Autorinnen und 
die Finanzierung des SF unterstützen . Ihr erhaltet 
die Bücher portofrei, Büchertische bekommen 
30% Rabatt , bezahlen aber das Porto. 


Die SF-Pakete für nur 10.-DM zzgl. 
Portokosten sind weiterhin erhältlich: 
Paket 1 (Nr.24-3l) 

Paket 2 (Nr.32-3?) 

Paket 3 (Nr.40-48), (ohne Nr. 44) 
Paket 4 (Nr.49*54) 


Jochen Knoblauch (Hg.): SF-Regi- 
ster. Aufgenommen wurden alle Bei¬ 
träge von Nr.0-Nr,50, incl. Sondernum¬ 
mern. 10,-DM; auch als DOS-Diskette 
(Word-Datei) erhältlich. 











N DER u M g 

*** 

mTE NrJT,EKa SJE FOLGENDF 




W.-I2,i^5 


f ej 

r’T*’ " ef "" nn IWien "“•« 6 &"* ^ 

‘ 10 < 12 Berlin Klf d* m G™t > 

W - K ^5 8^1,0 

nia 

*® W,W[ «- ««wmü^T Piä9n 

fHR£ «chnunisöh^. g J 


«sas» 

^ÖOffCICm rtßTEU.w*- 








CSSSZS' 












V'' '■■ 






J ri - (O0/:i»w2- 

Fa «- 030^2133691 


19-12,1995 

«Wf : 233» 


ÜG230145 

SohMri!er F **n fiM»kh. 


p «wtfach 1159 
0'71U7 


&r ' ä f w»UTDü f f lf| 


p’ io? p-a BeHiii 


Pstarman» 




Posivertriebsstück * E 9360 F * Entgelt bezahlt * Troizdem-Verlag, PF 1159, 71117 Grafenau